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Hans Magnus Enzensberger Haltungen und Vorhaltungen

Stand: 26.08.2009 | Archiv

Hans Magnus Enzensberger hält auf dem Kongress "Notstand der Demokratie" am 30. Oktober 1966 in Frankfurt am Main auf dem Römerberg eine Ansprache. | Bild: picture-alliance/dpa

Opportunist, Eskapist, Windhund, Renegat; ungreifbar, prinzipienlos, unzuverlässig, inkonsequent - Etiketten solcher Art, aufgeklebt von Weggefährten wie von Gegnern und Kritikern, pflasterten Enzensbergers Weg als öffentliche Person. Er kommentierte derartige Vorwürfe im Laufe der Jahrzehnte in vielen Spielarten:

Enzensbergers Konter

1

"Ich gebe eine gewisse Vorliebe für den Eigensinn zu."

Interview mit Claudia Szczesny-Friedmann im Bayerischen Rundfunk, 1982

2

"Treue zu einer Ansicht? Treue gibt es nur zu Menschen."

Im selben Interview

3

"Ich desertiere gern"

Aus dem Gedicht "Entzugserscheinungen". In: "Leichter als Luft", Frankfurt am Main, 1999

4

"Ich will mich bei der Arbeit nicht langweilen."

"Spiegel", 31. Dezember 2007

5

"Ich bin ganz gern asynchron."

Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger. In: Hanjo Kesting (Hg.), Dichter ohne Vaterland. Hannover, 1982

6

"Warum soll ich auf meinen Ideen sitzen bleiben?"

"Süddeutsche Zeitung", 11. November 2004

7

"Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht."

Hans Magnus Enzensberger, Peter Weiss und andere. In: Kursbuch 1966 (Juli), S. 176

8

"Zickzack"

Titel eines Essay-Bandes, Frankfurt am Main, 1997

9

"Ich bin kein Baum, habe die Neigung mich zu bewegen."

Interview mit Wilfried F. Schoeller im Bayerischen Rundfunk, 25. Juli 1997

10

"Das Vergnügen nein zu sagen" (Le plaisir de dire non)

"Nouvel Observateur", 20. September 2007

11

"Ich bin keiner von euch und keiner von uns"

Aus dem Gedicht "Schaum". In: "Landessprache", Frankfurt am Main, 1960

Wie kam es zu diesem Pingpong? Ein kleiner Ausflug in die 1960er-Jahre:

Politische Einmischung I

Frankfurt, Oktober 1966: Enzensberger als Redner auf dem Kongress "Notstand der Demokratie"

Enzensberger, der Ungebundene par excellence, immun gegen jegliche Vereinnahmung - im aufkommenden Protest der 60er-Jahre bleibt auch er nicht außen vor. Im Gegenteil: Schon im Oktober 1966 ergreift er öffentlich das Wort. Er solidarisiert sich mit der Studentenbewegung, die gegen die geplanten Notstandsgesetze mobil macht; sie wähnt darin ein Mittel des Staates, um gegen Links vorzugehen.

Die außerparlamentarische Opposition formiert sich, Teile der 68er propagieren den Aufstand - und Enzensberger ist mit von der Partie. Man hätte wohl gern eine Galionsfigur; kein Wunder, dass man versucht, ihn einzugemeinden. Gar als "Enfant terrible der Linken" bezeichnet man ihn, obwohl er zu deren radikalen Flügel, der zum Teil in den RAF-Terrorismus mündet, deutlichen Abstand hält. Später relativierte Enzensberger seine aktive Rolle bei den 68ern: Er sei nur "teilnehmender Beobachter" gewesen, habe lediglich Möglichkeiten erproben wollen.

Er- statt Bekenntnisse

Harte Kontroverse mit Hans Magnus Enzensberger: Peter Weiss

Wie dem auch sei, der strammen Linken war Enzensberger nicht orthodox genug, sie erwartete von ihm eine konsequente Positionierung. So forderte der Schriftsteller Peter Weiss 1966 in einer öffentlich ausgetragenen Kontroverse von Enzensberger ein klares Bekenntnis dazu, auf "wessen Seite" er stehe.

Er warf ihm "Doppelmoral" sowie "ständige persönliche Rückzugssicherungen" vor. Enzensberger schlug zurück: "Es ist nicht jedermanns Sache, mit Bekenntnissen um sich zu schmeißen (...) Die Moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor (...) Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit," schrieb er im Juli 1966 im Kursbuch 6.

Politische Einmischung II

Das Allerheiligste in Havanna: die Plaza de la Revolución

1968 hält er sich als Stipendiat des renommierten Center for Advanced Studies an der Wesleyan University im US-Bundesstaat Connecticut auf. Am 31. Januar wirft er sein Fellowship mit großer Geste hin. In einem offenen Brief bezichtigt er die USA des Imperialismus - und reist ab: zu deren Erzfeind, nach Kuba. Er will nach Fidel Castros Umsturz von 1959 im Karibik-Sozialismus mitmischen.

Jene Revolution war im Gegensatz zu vielen anderen anfangs vom Volk getragen. Enzensberger glaubt zunächst, dort bessere Bedingungen für eine antikapitalistische Gesellschaft als in Europa vorzufinden. Wie der Biograf Jörg Lau berichtet, schlägt der weltläufige, Spanisch sprechende Enzensberger vor, diplomatisches Personal im Umgang mit Vertretern westlicher Staaten zu schulen. Doch daraus wird nichts, die Behörden halten ihn hin. Nach einem Jahr verlässt er die Insel - enttäuscht vom persönlichen Scheitern, vor allem aber auch vom "realen Sozialismus", den zu studieren er reichlich Gelegenheit hatte.

Konsequent inkonsequent

Bei allem Engagement wahrte Enzensberger im Zuge seiner Exkursionen in die 68er- und die kubanische Welt deutlich Distanz zu den Machbarkeitsträumen der Linken. Mehr noch: Er kritisierte aufs Schärfste "linke Gemütlichkeit". Das nahm man ihm übel, die Vorwürfe blieben nicht aus: Inkonsequenz, Verrat ... (siehe oben). Bei genauer Betrachtung zielten sie ins Leere. "Eskapist" Enzensberger hatte nie für sich Geradlinigkeit in Anspruch genommen. 1981 ließ er dazu einen programmatischen Essay folgen. Titel: "Das Ende der Konsequenz".

"Ein Sack Flöhe" sabotiert die Utopie

Enzensberger war und ist zuallererst ein prinzipieller Zweifler. Skepsis hegt er vor allem gegen eine Kontrollier- und Steuerbarkeit von historischen Prozessen, ob nach rechts oder nach links.

Schlechte Aussichten also auch für bessere Welten.

"Über die Schwierigkeiten der Umerziehung"

"Einfach vortrefflich / all diese großen Pläne: / das Goldene Zeitalter / das Reich Gottes auf Erden." Aber: "An den Leuten scheitert eben alles. / Mit denen ist kein Staat zu machen. / Ein Sack Flöhe ist nichts dagegen." Denn: "Wenn es um die Befreiung der Menschheit geht / laufen sie zum Friseur." Fazit: "Ja wenn die Leute nicht wären / dann sähe die Sache schon anders aus."

Aus dem Gedicht Über die Schwierigkeiten der Umerziehung (1960er-Jahre)

Der ironische Ton des Gedichts verrät: Hoffnung auf Utopie hat auch für den linken Schriftsteller ausgedient.

Enzensberger 1991

Schließlich sei keine einzige, auch noch so blendend ausgedachte, eingelöst worden. Damit erklärte Enzensberger, selbst bei Marx geschult, auch dessen Prophezeiung der klassenlosen Gesellschaft für ad acta gelegt; nicht aber, wohlgemerkt, den Marxismus als Mittel zur Analyse.


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