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Hans Magnus Enzensberger Ein Umtriebiger

Stand: 26.08.2009 | Archiv

Hans Magnus Enzensberger (Aufnahme von 1963) | Bild: picture-alliance/dpa

Vom Ehrgeiz Getriebene wollen meist hoch hinauf, Enzensberger zog es früh schon - hinaus. Weg aus einem Land, dessen Hitler-Zeit er noch bewusst erlebt hatte. Die Familie zog 1931 von Kaufbeuren nach Nürnberg, in eine der späteren "Führerstädte". Das Getöse der Reichsparteitage begleitete Enzensbergers Kindheit und Jugend. Im Winter 1944/45 wurde der 15-Jährige noch zum "Volkssturm" eingezogen.

"Wenn einem der historische Prozeß einmal unter die Haut gegangen ist, dann traut man dem ordentlichen Alltag mit den blankgeputzten Fassaden nie mehr ganz über den Weg."

Enzensberger über seine Faschismus-Erfahrung in der Jugend (Interview 1979)

Ab ins Ausland

Er lernte mehrere Sprachen - nach dem Krieg besserte er sein Englisch als Dolmetscher bei der britischen Besatzungsmacht auf. Von der besorgte sich der 19-Jährige auch die Genehmigung für Fahrten nach England und Schweden. Das war 1949 - zu einer Zeit, als für die meisten Deutschen Reisen ins Ausland noch undenkbar waren.

"(...) / Was habe ich hier? und was habe ich hier zu suchen, / in dieser Schlachtschüssel, diesem Schlaraffenland, / wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts, / (...)"

Aus dem Gedicht 'Landessprache' (1960)

Aus Reisen wurden Aufenthalte: Nach dem Ende eines Literatur- und Sprachenstudiums mit einer Doktorarbeit über Clemens Brentanos Poetik wechselte er quasi im "Zickzack", so der Titel eines seiner späten Gedichtbände, die Wohnsitze: 1955 Stuttgart, 1957 Stranda in Norwegen, 1959 Lanuvio bei Rom, 1961 wieder Norwegen - für mehrere Jahre zog er sich mit seiner norwegischen Frau auf die Oslo-Fjord-Insel Tjøme zurück. Dazwischen: Reisen unter anderem in die USA und nach Mexiko.

Kosmopolit im Oslo-Fjord

Wer geglaubt hatte, aus nordländischer Idylle heraus komme von einem, der Dichter werden wollte, bestenfalls gediegene Naturlyrik, täuschte sich. Regelmäßig schaltete sich Enzensberger mit medienkritischen Essays und politischen Gedichten in die Belange der Bundesrepublik ein. Wenn es ihm passte, tauchte der Eskapist plötzlich wieder auf. "Ich bin kein edler Schriftsteller, der in Klausur lebt", so eine Selbstbeschreibung von 1962. Der Aufenthalt in der Fremde war Programm: "Ohne Distanz sieht man schlecht", sagte er einmal. Über den Tellerrand blicken, neue politische Kulturen kennenlernen, sich andere Perspektiven aneignen - das war Enzensbergers frühe Devise. Als sich seine Landsleute noch in der Lähmungsstarre nach der NS-Zeit befanden, war er schon unterwegs zum Kosmopoliten, auch wenn er in der skandinavischen Provinz wohnte.

Dis-Kursbuch

"Nur" Autor - das reichte Enzensberger nicht. Er wollte sich einschalten, Debatten lostreten, das ging am besten als Medienunternehmer. Von Tjøme aus revolutionierte er die deutsche Zeitschriften-Landschaft: Am 10. Juni 1965 erschien die erste Ausgabe des Kursbuch. Rasch nahm es unter den intellektuellen Periodika in Deutschland den ersten Rang ein. Der Plan war ambitioniert, man wollte ein Organ zur "Veränderung des Bewußtseins" der Leser - und der Macher. Nicht allein Literatur, die "Realität überhaupt sollte rezensiert werden", so Enzensberger. Er und sein Team setzten gegenüber dem Suhrkamp-Verlag absolute redaktionelle Autonomie durch - ein seltenes Privileg.

Samuel Beckett - schon die erste Ausgabe der Zeitschrift "Kursbuch" beginnt mit namhaftesten Autoren.

So konnten Beiträge über russische Lyrik oder über die lateinamerikanische Linke, über Kapitalismus in der Bundesrepublik ebenso wie über Mathematik und Metaphysik publiziert werden. Nicht wenige Kursbuch-Autoren gehörten dem internationalen Who's who aus Literatur und Wissenschaft an.

Andere Bücher

Selten beschäftigte sich Enzensberger öffentlich mit einem Projekt über sehr lange Zeiträume hinweg. 1975 stieg er beim Kursbuch als Herausgeber aus. Es folgte mit Transatlantik Anfang der 80er-Jahre eine zweite Zeitschrift, der jedoch wenig Erfolg beschieden war. 1983 lernte er den Münchner Franz Greno kennen, einen Discounter in der Buchdruckwelt, der mit ausgedienten Bleisatz-Maschinen hochwertige Print-Ausgaben herstellte. Aus der Bekanntschaft mit Greno folgte 1985 eine weitere Enzensberger-Initiative: die Buchreihe Die andere Bibliothek. Gegen jede Marktregel wählte er nach eigenem Bekunden nur Bücher aus, die er selbst lesen wollte - und jeden Monat nur eines. Der Verleger Greno druckte es zu einem erschwinglichen Preis (was sich aber auf Dauer nicht durchhalten ließ).

Bibliophile Buchreihe: Jeder Band der "anderen Bibliothek" ist individuell gestaltet.

In Zeiten von per elektronischem Fotosatz hergestellter Massenware hielten Enzensberger/Greno mit bibliophil ausgestatten und individuell gestalteten Werken dagegen. Dabei hoben sie ebenso vergessene oder unbekannte Schätze der Weltliteratur wie sie sich als Sprungbrett für neue Autoren erwiesen, etwa Christoph Ransmayr oder W. G. Sebald.

Herausgeber, Übersetzer, Vermittler von Weltliteratur

2004 verabschiedete sich Enzensberger von der Herausgabe der Buchreihe. 20 Jahre Jahre hatte er, selbst manischer Leser, mit der anderen Bibliothek die Rolle spielen können, die er neben der Produktion von Literatur immer auch eingenommen hatte: die ihrer Vermittlung. Schon 1960 hatte er das Museum der modernen Poesie veröffentlicht, eine Anthologie mit Gedichten der "klassischen Moderne". Sie ist nicht nur eine Sammlung von Lyrik der Jahre 1910 bis 1945, sondern er stellte darin fast 100 Autoren aus 30 Ländern vor, von denen eine ganze Reihe bis dato in Deutschland kaum bekannt waren.

In Enzensbergers Kanon der modernen Poesie: der Spanier Federico García Lorca

Nichts weniger nahm sich Enzensberger vor, als einen Zugang zur "Weltsprache der modernen Poesie" zu eröffnen. Bei einigen Autoren übernahm er selbst die Übersetzung, etwa beim US-Amerikaner William Carlos Williams, César Vallejo aus Peru oder beim Chilenen Pablo Neruda.


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