1915 Giftgas: die erste Massenvernichtungswaffe
"Mit Gift für König und Vaterland": In Ypern setzten deutsche Truppen am 22. April 1915 erstmals auf einen neuen Waffentyp - Chlorgas. Die Wirkung war begrenzt. Mit den Nachwirkungen kämpft die Welt bis heute.
Das Stahlgewitter aus Maschinengewehrsalven und dem Dröhnen von Granaten und Schrapnells waren die Männer im Schützengraben gewöhnt. Am 22. April 1915 bedrohte sie ein neuer, fast lautloser Tod. Die sanfte Nachmittagsbrise wehte eine grünliche Wolke über die Felder von Ypern, ließ zunächst die Augen der Soldaten tränen, reizte ihre Nasen, Hälse, Lungen.
Erstmals in der Geschichte setzten deutsche Truppen in der Nähe der westbelgischen Stadt massiv Giftgas ein. Aus 6000 Zylindern stiegen Schwaden auf, die der Wind auf die französischen Linien zutrieb. Wenig später fielen tote Vögel aus den frisch erblühten Zweigen der Büsche, die jetzt langsam verdorrten. 1.200 Soldaten erstickten grausam.
Kanarienvögel gegen den Lungenbrand
Von der durchschlagenden Wirkung, die das Gift entfalten würden, waren Angreifer und Opfer wohl gleichermaßen überrascht. "Sie wussten nicht, was über sie hereinbrach", sagt der Historiker Pieter Trogh vom Forschungszentrum des Weltkriegsmuseums in Ypern über die Männer aus Algerien und der Bretagne, die die Wolke auf sich zuwehen sahen.
Das Kalenderblatt
Schon zweimal hatte die deutsche Militärführung Versuche mit Giftgas abgebrochen. Nur wenige waren von der neuen Waffe überzeugt, deren Erfolg buchstäblich von Wind und Wetter abhing. Der anfängliche Überraschungseffekt nutzte sich schnell ab. Schon bald ersannen die Gegner Gegenmittel - mehr oder weniger geeignete Gasmasken, Kanarienvögel, die bei Gasgeruch anschlugen. Weitere Angriffe und Gegenangriffe folgten. "Gas wurde einfach nur eine weitere Waffe im tödlichen Arsenal des Krieges", resümiert Historiker Trogh.
"Buntschießen": die Geburtsstunde der Massenvernichtungswaffen
Und doch war das Giftgas ein Tabubruch, eine "Perversion", wie nicht nur Clara Immerwahr fühlte. Die Chemikerin und überzeugte Pazifistin war verheiratet mit ihrem Breslauer Kollegen Fritz Haber, dem "Vaters des Kampfgases", der den Einsatz an der Front wissenschaftlich betreute und zeitlebens als "höhere Form des Tötens" verklärte. Vor dem Fronteinsatz hatte Haber sich (mit angemessen niedriger Dosierung) einem Selbstversuch unterzogen und gewissenhaft protokolliert:
"Im Augenblick hatten wir in dem Chlornebel die Orientierung verloren, ein wahnsinniger Husten setzte ein, die Kehle war wie zugeschnürt."
Fritz Haber
Clara, die Frau des späteren Nobelpreisträgers, nahm sich zehn Tage nach dem Angriff von Ypern das Leben. Der 22. April 2015 markiert den ersten Einsatz einer "C-Waffe". Dass bei Giftgaseinsätzen "nur" grob geschätzt 90.000 Menschen ums Leben kommen, aber mehr als zehnmal so viele verwundet werden, ist zynisches Kalkül: Weil die Versorgung Schwerverletzter mehr Einsatzkräfte bindet als die Bergung Toter, galt der Gaskrieg seinen Anhängern als effizient.
"Mit Gift für König u. Vaterland, u. gegen die ganze Welt"
Feldposteintrag eines deutschen Soldaten vom Mai 2015
Dossier
"Buntschießen" nannte man den Einsatz der neuen Kampfstoffe, die je nach chemischer Zusammensetzung mit einem blauen, gelben oder grünen Kreuz gekennzeichnet sind. Versuche, Giftgaseinsatz als "humane Kriegsführung" zu deklarieren, wurden durch die anschwellende Zahl von Berichten aus dem Feld und den Lazaretten als Propaganda entlarvt: Reizgase (Blaukreuz) zwangen die gegnerischen Truppen, sich die neu entwickelten Gasmasken vom Gesicht zu reißen und führten zu Nervenschäden und Erblindung, Gelb- und Grünkreuz verbrannten Atemwege und Lunge. Einige Stoffe ätzten den Soldaten buchstäblich die Gesichter weg.
Giftgaseinsatz heute: Kriegsrecht und Realität
Mit dem Kriegsrecht vereinbar war das nicht: Die Haager Konventionen verboten Chemiewaffen - allerdings war darin von Projektilen die Rede. Findige Juristen argumentierten, der Einsatz von aufsteigendem Gas aus Kanistern sei legitim. Und bald wurde Giftgas ohnehin von allen Seiten auch per Munition gezielt verschossen.
Seit 1925 ist der Einsatz chemischer Kampfstoffe nach dem Genfer Protokoll verboten. Gebannt ist der schleichende Tod bis heute nicht.
Erst vor einer Woche berichteten Opfer und Ärzte vor dem UN-Sicherheitsrat über mutmaßliche Giftgas-Angriffe im Nordwesten Syrien. Hubschrauber der Regierung hätten an einem Tag während des Morgengebets Behälter mit Gas abgeworfen. Auch die Terrormiliz IS soll sich im Besitz von Chlorgas befinden.
Giftgaseinsätze der Gegenwart
Syrien
Im syrischen Bürgerkrieg, der im März 2011 begann, gibt es immer wieder Berichte über angebliche Giftgas-Angriffe, zuletzt im März mit Chlorgas. UN-Untersuchungen zufolge wurde mehrfach Giftgas eingesetzt. So sollen allein bei einem Angriff mit dem Nervengift Sarin in Al-Ghuta nahe Damaskus im August 2013 etwa 1400 Menschen getötet worden sein. Das Regime von Präsident Baschar al-Assad und Rebellen beschuldigen sich gegenseitig. Auf internationalen Druck hatte Syrien 2013 der Vernichtung seiner Chemiewaffen zugestimmt.
Irak
In den 1980er Jahren setzte die irakische Armee im Krieg gegen den Iran unter anderem Senfgas und das Nervengas Tabun ein. Das Regime des Diktators Saddam Hussein griff auch Dörfer und Städte im kurdischen Norden des Landes mit Giftgas an. Allein in Halabdscha starben im März 1988 mindestens 5000 Menschen. Nach dem Krieg gegen Kuwait verpflichteten die Vereinten Nationen 1991 den Irak, seine Massenvernichtungswaffen zu zerstören. US-Präsident George W. Bush begründete den Angriff auf den Irak im März 2003 unter anderem damit, das Land stelle solche Waffen her. Dies erwies sich als falsch.
Libyen
Das Land trat 2004 der internationalen Chemiewaffen-Konvention bei und meldete knapp 25 Tonnen Senfgas an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW). Nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 entdeckte die neue libysche Führung weitere fast zwei Tonnen Senfgas, die in Bomben und Artilleriegranaten einsatzbereit waren. Die Waffen wurden vernichtet.
In Ypern pflügen Landwirte bis heute Gasgeschosse aus den Feldern, tragen sie zum Wegesrand und arbeiten weiter. 150 bis 200 Tonnen pro Jahr an Munition aus dem Ersten Weltkrieg sammeln Spezialkräfte der belgischen Armee pro Jahr ein. Etwa fünf Prozent der Geschosse enthalten noch heute gefährliches Giftgas