Wörterbuch des Krieges Im Trenchcoat durchs Stahlgewitter
Das Wort "Weltkrieg" war schon vor dem Ersten Weltkrieg in Gebrauch. Sonst aber war in diesem Krieg alles anders: Neue Waffen produzierten neue Arten zu sterben. Neue Begriffe eroberten die Welt - viele sind bis heute in Umlauf. Sogar die Mode reagierte auf den Krieg. Ein kleines Glossar des Schreckens.
Nie zuvor kamen in einem Krieg derart viele und verschiedene Waffen zum Einsatz. Durch die Luft schwirrten todbringend Flugzeuge, Ballone, Zeppeline. Dem Seekrieg zogen U-Boote eine neue Ebene ein - ein tückischer, weil unsichtbarer Gegner. Auch der Landkrieg sah anders aus: Zwar bekämpften sich die Truppen noch wie gewohnt zu Pferde, mit Sturmgewehr und Bajonett; mehr Opfer aber produzierten ->PANZER, ->GIFTGAS, Schnellfeuerwaffen. Die wichtigste: das Maschinengewehr mit der Typenbezeichnung 08/15.
Die beiden Zahlen stehen für das Produktionsjahr des ersten Prototyps und seiner Weiterentwicklung. Im Ersten Weltkrieg war das MG 08/15 Standard in der deutschen Armee, das Trainig damit nervige Routine - eben 08/15.
Wer das ->TROMMELFEUER des Schnellschussgewehrs von der Gegenseite aus erlebte, sah das etwas anders. In Deutschland aber wurde "08/15" nach und nach zum geflügelten Wort für - so der Duden - "bar jeder Originalität": Im Ersten Weltkrieg, in der Revolution von 1918/19, im Zweiten Weltkrieg und nochmal 1954, als der Offizier Hans Hellmuth Kirst mit seiner so betitelten Romantrilogie über das Leben an der Front einen Volltreffer in den Bestsellerlisten landete.
"Nullachtfünfzehn" ist damit ein enger Verwandter von "Schema F" - ursprünglich ein 1861 eingeführter Formularvordruck der preußischen Armee.
BR-Produktion
Der Stolz der Truppe: Während die Westalliierten auf leichte Feldartillerie setzen, fährt Deutschland schweres Geschütz auf. Der 1911 vom ->STAHL-Konzern Krupp entwickelte 42-cm-Mörser war vor allem für die Einnahme von Festungen gedacht. Tatsächlich konnten mit Berthas Hilfe in kurzer Zeit zehn meist ältere Forts in Belgien und Nordfrankreich erobert werden. "Durchschlagskraft" wird zum Modewort der Stunde. Im weiteren Kriegsverlauf geht der in der Schienenversion 150 Tonnen schweren Bertha die Puste aus: Mehr als einen Meter drangen selbst massive Sprenggeschosse kaum in Betonmauern ein - für moderne Festungsanlagen wie Verdun zu wenig.
Ob der familiär anmutende Spitzname des Mörsers tatsächlich auf Bertha Krupp von Bohlen und Halbach zurückgeht, ist ungewiss; sicher ist, dass er zur Popularität der Kampfmaschine beigetragen hat. Sicher ist auch: Bertha verschlang Millionen. Ein einzelner Schuss aus der eine Million Mark teuren, schnell verschlissenen Kanone kostete 1.500 Mark.
Münchens OB Christian Ude mit der "dicken Berta". Bis in die 60er-Jahre konnte man auf der Wiesn mit der 40-Kilo-Kanone seine Kräfte messen.
Im Zweiten Weltkrieg laufen modernere und noch größere Eisenbahngeschütze namens schwerer Gustav und dicke Dora Bertha den Rang ab; diese hat ihren letzten unrühmlichen Auftritt wohl bei der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto.
Im Sprachgebrauch treibt sie ihr Unwesen bis heute: Als "dicke Bert(h)a" firmieren mehrere Leuchttürme, Berggipfel, Baumriesen und Jahrmarktsbelustigungen. Im Sächsischen erblickt 1920 der analog geformte "Stramme Max" das Licht der Welt.
In die Schlagzeilen schaffte es die Dicke Bertha zuletzt Anfang 2012. Damals bezeichnete EZB-Präsident Mario Draghi in einem FAZ-Interview ein 530-Milliarden Kreditpaket für südeuropäische Banken als "Dicke Bertha".
"Kommt es zum Kampf, so hören alle Parteien auf! Auch Mich hat die eine oder die andere Partei wohl angegriffen. Das war in Friedenszeiten. Ich verzeihe es heute von ganzem Herzen!"
Balkonrede Wilhelms II. am 1. August
"Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!"
Wilhelm II. vor Parlamentariern am 4. August
Mit diesen Worten, die ihm sein Reichskanzler Bethmann Hollweg aufgeschrieben hatte, traf der deutsche Kaiser ins Schwarze. Am 1. August 1914 hatte das Reich Russland, am 3. August dessen Verbündetem Frankreich den Krieg erklärt und war ohne Kriegserklärung in das neutrale Belgien einmarschiert.
Gefühlt aber war Deutschland im Verteidigungszustand. War nicht das Attentat auf Österreichs Thronfolger ein Angriff auf den engsten Verbündeten? Parteien, Stämme, Konfessionen - jetzt ging es darum zusammenzuhalten.
"Wir werden diesen Kampf bestehen - auch gegen eine Welt von Feinden"
Wilhelm II. 'An das deutsche Volk', 6. August 1914. (Veröffentlicht in allen deutschen Zeitungen. Anfang 1915 entsteht zusätzlich eine Tonbandaufnahme)
Die Kaiserrede im Netz
Ein "Frieden" mit Millionen Toten
Am 4. August hatte der Reichstag sein einziges Mittel zur Verhinderung des Krieges - die Weigerung, ihn zu finanzieren - aus der Hand gegeben und mit nur zwei Enthaltungen die Aufnahme von Kriegskrediten gebilligt. Anschließend verzichtete das Parlament auf weitere öffentliche Zusammenkünfte, wofür sich umgehend der Begriff "Burgfrieden" einbürgerte - im Mittelalter bezeichnete man so das Verbot gewaltsamer Auseinandersetzungen im Rechtsbereich der Burg.
Paradox: Der "Burgfrieden" markierte Deutschlands Weg in den Krieg. Und er führte zu jener fatalen Spaltung der Arbeiterbewegung, die auch die Entstehung der Weimarer Republik überschattete und später den Widerstand gegen Hitler entscheidend schwächte. Nur Tage zuvor hatte die SPD zu Demonstrationen für den Frieden aufgerufen. Jetzt sah die Parteiführung die Chance, die jahrzehntelangen Schmähungen als "vaterlandslose Gesellen" zu widerlegen. Wenig später spalteten sich die kriegskritische USPD und der Spartakus (später KPD) ab.
radioWissen Dossier
"Im Felde unbesiegt": Nicht deutsche Soldaten haben den Krieg verloren - Demokraten und Pazifisten in der Heimat, schlimmer noch: eine Verschwörung von Juden, Sozialisten und feindlichen Agenten hat die Niederlage zu verantworten.
"Ich denke gar nicht daran wegen der paar hundert Juden und der tausend Arbeiter den Thron zu verlassen!"
Wilhelm II. am 1. November 1918, 27 Tage vor seiner Abdankung.
"Hinterrücks erdolcht" wie Siegfried, der Held der Nibelungen: Für viele der geschlagenen Kriegsheimkehrer klingt die These tröstlich, und plausibel scheint sie auch: wann schließlich hätten in den vergangenen vier Kriegsjahren fremde Soldaten deutschen Boden betreten?
Audio: Das Kalenderblatt
Es sind gescheiterte Kriegsstrategen wie Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, Köpfe der Obersten Heeresleitung (OHL), die nach dem Krieg solche Ideen ausbrüten, um vom Versagen der politischen und militärischen Führung abzulenken: Überspannte Kriegsziele, die Unterschätzung der Gegner, Strategiefehler. Das Zitat eines britischen Offiziers in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. 1918 liefert das blutige Sprachbild.
radioWissen Dossier
Der erfolgreichste Schachzug der OHL ist kein militärischer: Als die Niederlage unausweichlich ist, fordert der überzeugte Monarchist Ludendorff, demokratisch gewählte Politiker müssten die Friedensverhandlungen führen. Am 28. Juni 1919 bleibt Politikern von SPD und Zentrum nichts anderes übrig, als einen Vertrag zu unterzeichnen, der drakonische Bedingungen enthält - und die deutsche Kriegsschuld festschreibt.
Danach werden die "Erfüllungspolitiker" des "Schandvertrags" von Versailles von rechten Agitatoren verteufelt, der Finanzminister Matthias Erzberger ermordet. Die junge Republik hat eine schwere Hypothek zu tragen.
Video: BR-alpha
Ehrenbürger Hindenburg
Ab 1916 entwickelt sich der Krieg, den Optimisten für ein Sechs-Wochen-Manöver gehalten hatten, zum ->NERVENkrieg. Nichts geht voran in den engen Schützengräben, in denen bei Regen knietief das Wasser steht. Die Kombination aus Todesnähe, Zweifel am Sieg, erzwungenem Nichtstun und ständiger Erwartung feindlicher Attacken zermürbt die Soldaten.
"... verlor unsere Division allein 3.400 Mann und 1.100 Pferde, und was sonst kabut war, unser Bagasche hatten die Flieger vernichtet gehabt, wir lebten nur mehr von diesem, welches wir den Toten abnehmen oder Pferdefleisch, könnt Euch ein Bild machen, mit den Leichen bauen wir nur mehr Deckungen für unsere Gewehre, Ihr sollt nur den Geruch riechen ..."
Feldpostbrief von Hans Spieß (Amberg), 3. Juli 1918, zit. nach Ulrich/ Ziemann)
"Wir haben dem übermächtigen Ansturm unserer Gegner mit Gottes Hilfe durch deutsche Kraft widerstanden, weil wir einig waren, weil jeder freudig alles gab. So muss es sein bis zum letzten 'Nun danket alle Gott' auf blutiger Walstatt!"
Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg am 17. Oktober 1917
Auch daheim, wo auf den Feldern und in den Fabriken die Arbeiter fehlen und sich die Ernährungslage zunehmend verschlechtert. "To keep home fires burning", lautete die entsprechende Losung in England.
"Durchhalten müssen wir, durchhalten wollen wir, durchhalten werden wir - mit unseren Ledersohlen, wenn solche mit den gesetzlich geschützten Schonern 'Halte durch' versehen werden."
Werbeanzeige im Berliner Tageblatt vom 30. Januar 1918.
Die Annonce gefunden hat die Historikerin Harriet Rudolph - ebenso wie die Wortschöpfungen "Dauerbrot", "Dauerkerzen" und "Elbeco Dauerwäsche". "Ihren krönenden Abschluss fand die "Dauer"-Warenkampagne in einer Buchanzeige vom September 1918, die das Schlagwort "Dauerfrieden" als Blickfang einsetzte", schreibt Rudolph.
Das Wort "Ersatz" ist ein Exportschlager. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es im Englischen und Französischen bekannt. In Deutschland ist es schon einen Krieg früher in aller Munde - zunächst als Ersatzkaffee aus Zichorienwurzel oder Getreide. Denn mit Beginn der britischen Seeblockade hat sich der Ressourcenmangel im Reich dramatisch verschärft: Fast 40 Prozent aller Lebensmittel- und Rohstoffimporte fallen aus, die Liste reicht von Baumwolle über Kautschuk bis Zinn und Zucker. Die Reaktion: Es wird zweckentfremdet, eingeschmolzen und gestreckt, was das Zeug hält. Oder eben: ersetzt.
Wegwartenwurzel und Mehlwurst
Manches ist bloße Geschmacksache. An Rübensüße als heimische Alternative zu teurem Rohrzucker sind die Deutschen bereits gewöhnt. Jetzt gibt es auch Schokolade ohne Kakao, Limonade ohne Zitrusfrüchte, Kaffee ohne Kaffee.
Der Wurzelsud lässt sich zur Not mit etwas Poesie versüßen: Der deutsche Name der Zichorie bezeichnet alter Sage nach ein Mädchen, das am Wegrand darauf wartet, dass sein Liebster aus dem Krieg heimkehrt - bis Gott sie aus Mitleid in eine blaue Blume, die Wegwarte, verwandelt. Schlimmer als der Ausfall von Kolonialwaren ist, dass die vernachlässigte deutsche Landwirtschaft schon bald nicht mehr genug Fleisch, Brot, Butter und Öl produziert - auf den Speisezettel kommen Ersatzwurst, die hauptsächlich aus Mehl besteht, Ersatzbrot aus Kartoffeln, dazu Margarine und Pflanzenschleim.
Dann war auch noch der Reifen weg
Die Rüstungsindustrie laboriert an Metallmangel, dem mit dem altbekannten Einschmelzen von Kirchenglocken nicht mehr beizukommen ist. An Sammelstellen liefern die Deutschen mehr oder weniger freiwillig ihre Gebrauchsgegenstände aus Aluminium, Kupfer und Zinn ab. Auch Fahrradreifen aus Gummi werden konfisziert, Lastwagen sind mit Notbereifung unterwegs, was in Österreich zu erheblichen Straßenschäden führt.
Not, die erfinderisch macht
Und wie sieht es mit dem chilenischen Salpeter aus, der zur Herstellung von Sprengstoff lange unverzichtbar war? Gerade noch rechtzeitig haben die Chemiker Fritz Haber und Carl Bosch 1910 ein Verfahren entwickelt, mit dem sie - buchstäblich unter Hochdruck - den Ersatzstoff Ammoniak produzierten, den sie - wieder buchstäblich - aus der Luft, nämlich dem darin enthaltenen Stickstoff gewannen. Ohne das Bosch-Haber-Verfahren hätte der Krieg mangels Munition vermutlich ein rascheres Ende genommen - wie andererseits der ebenfalls aus Stickstoff gewonnene Kunstdünger nach dem Krieg einen Beitrag zur weltweiten Bekämpfung des Hungers leistete.
Der Zwang zum Umdenken hat auch andere positive Nebenwirkungen. Die Ersatzwirtschaft der Kriegsjahre begünstigt den Aufschwung der chemischen Industrie in Deutschland. Und auch darüber ließe sich spekulieren: Ob die Disziplin der Deutschen bei Mülltrennung und Recycling auf die Mangelwirtschaft der Kriegsjahre zurückgeht?
Die Eisenbahn machte es es möglich. Wurden im deutsch-französischen Krieg 1870/71 90 Millionen Feldpostbriefe verschickt, wurde diese Zahl im "großen Krieg" in einer einzigen Woche übertroffen. Insgesamt 28,7 Milliarden Briefe, Karten und Päckchen gingen portofrei zwischen Soldaten und ihren Angehörigen hin und her - rund zwei Drittel in Richtung Front.
Als Quelle interessant sind vor allem die zigtausend erhaltenen Berichte der Soldaten, die den Wechsel von Zuversicht oder gar Euphorie hin zu Skepsis und schierer Verzweiflung angesichts offizieller ->DURCHHALTEPAROLEN dokumentieren. Die Lektüre ist beklemmend. Viele Korrepondenzen klingen atemlos, viele enden abrupt.
"Meine Lieben nun habe ich heute einmal eine Minute gefunden und kann Euch einige Zeit schreiben, zur Zeit bin ich noch am Leben ... wir kommen zu keiner Ruhe mehr, innerhalb weniger Tage mussten wir 100km zurück, was nicht laufen kann wird gefangen also seidt nicht bekümmert, es hilft nichts, es sind keine Leute da, also kann es nicht mehr lang dauern."
Letzter Feldpostbrief von Hans Spieß (Amberg) am Tag vor seinem Tod, 21.Oktober 1918 (zitiert nach Ulrich/Ziemann).
Zensur und Schikane
Ungefilterte Eindrücke gibt die Feldpost freilich nicht wieder. Von Kriegsbeginn an gibt es immer wieder Postsperren, in denen Briefe - außer jenen von Offizieren - nur unverschlossen aufgegeben werden dürfen, um von den Vorgesetzten kontrolliert zu werden. Eigentlich geht es um die Wahrung militärischer Geheimnisse - was viele Zensoren nicht hindert, kritische Einlassungen verschwinden zu lassen und die Beschwerdeführer zu schikanieren oder Intimes mit hämischen Kommentaren versehen weiterzutratschen.
Von April 1916 an kümmern sich Postüberwachungsstellen um eine Vereinheitlichung der Zensurmaßnahmen. Die Soldaten reagieren, indem sie ihre Briefe von Fronturlaubern heimbringen lassen, frankiert aus dem Zugfenster werfen oder individuell "codieren":
"Mit dem bin ich Essen zufrieden---. Kann bis jetzt nicht klagen---"
Feldpostbrief 1917
Kein Einzelfall ist das Los des Solnhofener Metzgers Michael Kappelmeier, der in einem Brief darum bittet, seinen Landtagsabgeordneten über Misstände zu informieren. Dummerweise gelangt der Brief auch an das Bayerische Kriegsministerium - was Kappelmeier eine einjährige Haftstrafe einträgt.
Der erste Weltkrieg ist auch die Geburtsstunde der chemischen Kriegsführung. Bereits im August 1914 versuchen die Franzosen, ihre Angreifer mit Tränengas auf Abstand zu halten - ohne Erfolg. Im Januar 1915 setzen die Deutschen eine ähnliche Substanz an der Ostfront ein. Der erste große Gasangriff der Geschichte erfolgt am 22. April 1915 bei Ypern (Belgien), wo die Deutschen 150 Tonnen schweres Chlorgas aus Flaschen in die französischen Schützengräben blasen. Die Wirkung ist verheerend, der militärische Nutzen gering: Weil die Deutschen selbst keine Gasmasken dabei haben, machen sie kaum Boden gut.
Im weiteren Kriegsverlauf kommen vor allem Giftgasgranaten zur Anwendung, die je nach verwendetem Kampfstoff mit einem blauen, gelben, grünen oder weißen Kreuz markiert sind. Verheerende Auswirkungen hat die Kombination von Giften, verharmlosend als "Buntschießen" bezeichnet: Reizgase ("Blaukreuz") zwingen die gegnerischen Truppen, sich die neu entwickelten Gasmasken vom Gesicht zu reißen. Danach führen Gelb-, Grün- und Weißkreuzgase zu massiver Schädigung von Haut, Lunge und Augen.
Versuche, Giftgaseinsatz als "humane Kriegsführung" zu kennzeichnen, sind schnell als Propaganda überführt. Dass bei Giftgaseinsätzen "nur" 100.000 Menschen ums Leben kommen, aber mehr als zehnmal so viele verwundet werden, ist zynisches Kalkül: Weil die Versorgung Schwerverletzter mehr Einsatzkräfte bindet als die Bergung Toter, gilt der Gaskrieg als effizient.
Die Akte Hitler
Eines der Gasopfer wird später zum größten Gasmörder der Weltgeschichte. Adolf Hitler gerät kurz vor Kriegsende als Meldegänger bei Flandern in einen Senfgasangriff und kommt daraufhin Lazarett. Hitlers Krankenakte wird 1933 von der Gestapo beschlagnahmt. Bis heute ist umstritten, ob Hitlers zeitweise Erblindung organischer oder hysterischer Natur war und welchen Einfluss die Hypnosetherapie des Münchner Nervenarztes Edmund Forster hatte.
Der Keks, auf den der Krieg immer Menschen ging, ist im Krieg erst groß geworden – zumindest das entsprechende Lehnwort.
Vor 1914 dominierte weithin das englische Cakes. Auch ein weiteres heißbegehrtes Gut aus den ->TORNISTERN der Soldaten gewöhnte sich eine deutsche Schreibweise an: die Zigarette - vor Kriegsausbruch noch als Cigarette in aller Munde.
Auch "Brands" respektive Markennamen wandelten sich: Etwas halbherzig wurde die aus England eingeführte Seife "Sunlight" in "Sunlicht" eingedeutscht - schließlich sollten die Kunden sie wiedererkennen. Der Feind stand nicht zurück: In England, wo das Königshaus seinen deutschen Namen Sachsen-Coburg-Gotha 1917 in Windsor umwandelte, firmierte das Mundwasser Odol als Odonto, das ->NERVENstärkunsmittel Sanatogen wurde durch die ->ERSATZ-Produkte Regesan, Sanagen und Genatosan ersetzt.
"Deutsche, kauft deutsche Zitronen!"
Ironischer Aufruf des Satirikers KurtTucholsky (1931)
1907 denkt sich Josef Friedich Schmidt in seiner Werkstatt in der Münchner Lilienstraße ein neues Brettspiel für seine Kinder aus, das das entfernt an das englische Ludo erinnert. Ab 1914 vertreibt er die Rausschmeißsause kommerziell und in Serie. Weil bei Kriegsausbruch kaum jemand Lust hat, Geld für Gesellschaftsspiele auszugeben, spendet Schmidt 3.000 Spielbretter für die Front - und erzielt den durchschlagenden Erfolg, der den Soldaten verwehrt bleibt.
"Ihr mir gesandtes Spiel habe ich dem Lazarett vermacht, denn es hat ungeheuer viel Anhänger gefunden. Es sind Leute dabei, die schon morgens 7 1/2 spielen (um 7 Uhr wird aufgestanden) und jede freie Zeit, welche reichlich ist, benützen (...)"
Dankesbrief aus dem Lazarett, 1915
Während andere "Kriegsspiele" nach Kriegsende oft in der Ecke landen, hat Schmidt 1920 bereits eine Million Exemplare des Spielklassikers verkauft. Etwas später wird das bunte Rausschmeißen auch beim Gegner populär - in Frankreich allerdings unter den Namen Petits Cheveaux (Pferdchen) oder "Ne t'en fais pas" - Mach dir nichts draus.
Schon das späte 19. Jahrhundert ist für viele "reine Nervensache": Nach der Medizin machen sich nun Psychologie, Philosophie und Kunst über das Nervenbündel Mensch her. "Der neue Idealismus drückt die neuen Menschen aus. Sie sind Nerven; das andere ist abgestorben, welk und dürr." So formuliert es 1891 der Literaturwissenschaftler Hermann Bahr. "Wir werden siegen, weil wir die stärkeren Nerven haben", erklärt 1914 der Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg.
Das darf bezweifelt werden. Nicht nur erleiden, wie der Historiker Bernd Ulrich festgehalten hat, mit Helmuth von Moltke und Erich Ludendorff zwei Zentralgestalten der Militärführung Nervenzusammenbrüche - Moltke bei Kriegsausbruch, Ludendorff bei Kriegsende. Unter Soldaten wie Zivilisten häufen sich Selbstmorde, Verfolgungswahn, hysterische Reaktionen.
"Hat ein Krieg wirklich Einfluß auf die Erkrankungen an Geistesstörung? Diese Frage ist unbedingt mit ja zu beantworten"
Heinrich Resch, Arzt an der Heil- und Pflegeanstalt Bayreuth 1915 (zitiert nach Ulrich/Ziemann) .
Im Lauf des Krieges werden immer neue Nervenlazarette eingerichtet, die stets überfüllt sind. Die häufigsten Leiden: Herzrasen, Kopfschmerzen, Schreikrämpfe und andere Angststörungen, daneben traumabedingtes Verstummen, Taubheit und das berüchtigte "Kriegszittern". Zehn Jahre nach dem Kriegsende muss eine Kommission des Reichsarbeitsministeriums feststellen, ob immer noch kriegsbedingte "Schreckneurosen" bestehen, die Entschädigungszahlungen begründen könnten - was die Experten verneinen.
"Tank" heißen die Kampfmaschinen im Englischen bis heute: als die Briten 1916 erstmals bewegliche, mit MGs oder anderen Geschützen bestückte Panzerfahrzeuge einsetzen, sollen die rollenden Stahltürme den Deutschen vortäuschen, es handle sich um Wassertanks.
Ende 1917 hat die neue Kriegstechnologie in der Schlacht von Cambrai ihren ersten großen Auftritt: 375 englische Panzer sollen nach dreijährigem Stellungskrieg den Durchbruch bringen. Doch die ersten Panzer sind schwergängige Ungetüme, die im Morast und in Bombenkratern leicht steckenbleiben, und ihre Panzerung ist keineswegs unverwundbar. Am Ende sind 50.000 deutsche Soldaten tot, verwundet oder gefangen - bei den Briten sind es ähnlich viele.
Bis in den Duden hat es Ernst Jüngers Wortschöpfung nicht geschafft. "Meinten Sie 'Stahlgitter'?" fragt die Onlineausgabe. Die martialische Metapher überschreibt die ab 1920 veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen des Offiziers Ernst Jünger. Das Buch wird ein Bestseller und gilt heute als eine Art Gegenpol zum acht Jahre später erschienenen Antikriegsbuch "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque. An Drastik wird hier wie dort nicht gespart. Doch während Remarque Sinnlosigkeit und Elend des Kriegserlebnisses schildert, beschreibt Jünger den Krieg moral- und emotionsfrei als Bewährungsprobe elitärer Männlichkeit. "Hart wie Kruppstahl" - so will Adolf Hitler in einer Rede 1935 die deutsche Jugend schmieden.
Eine andere Wortschöpfung erlebt bereits im Krieg eine ähnliche Konjunktur: das Trommelfeuer. Beide Begriffe beschreiben ein unerhört neues Kriegserlebnis: das Dauerdröhnen massiven Artilleriebeschusses durch Maschinengewehre und Granatwerfer, das die gewohnte Tonspur des Kampfes - Kriegsgeschrei, Schüsse, Kampfgeräusche - komplett überlagert und vom Soldat eine völlige Neuorientierung verlangt.
"Der Kanonendonner ist häufig derart lebhaft, daß man keinen einzelnen Kanonenschuß hört, sondern nur ein stundenlanges ununterbochenes Rollen."
Feldpostbrief Fr. Langhorst vom 2.1.1915 (zitiert nach Ulrich/Ziemann)
Selbst wo Treffer ausbleiben, summiert sich der Lärm zusammen mit anderen Sinneseindrücken zu einer Art synästhetischem Blitz-Alptraum.
"Eine Granate schlägt vor mir ein, in demselben Augenblick höre ich den Schall im Trommelfell, das zu vibrieren beginnt; in demselben Augenblick trifft der Lichtstrahl des krepierenden Geschosses die Netzhaut, in demselben Augenblick rieche ich Pulvergase ..."
Schilderung des Arztes Paul Plaut (zitiert nach Ulrich/Ziemann)
Ernst Jünger entwickelt eine Typologie der Kriegsgeräusche, die er in Comicsprache festhält: "Krach, Bautz! ssst! ssst! ssst – bum!" Bis heute hält sich das Stahlgewitter und seine metallenen Varianten im Sprachgebrauch. Auch gern genommen: Das "Stahlbad der Seele". In seinem Stilstand-Blog weist Klaus Jarchow darauf hin, dass das Stahlbad schon damals einem ganz anderen Bereich entstammt: "Ein 'Stahlbad' ist schlicht ein mondäner Badeort mit eisenhaltigem Wasser."
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Erst hatten nur die Preußen einen. Seit 1895 sind alle deutschen Soldaten mit einem einheitlich gestalteten Tornister augestattet: Stoffbekleideter Holzrahmen, Leder oder Baumwolltasche, darüber ein Fellbezug, der ihm nicht nur in Bayern den Namen gibt: Affe.
Drinnen: Wäsche, Wechselstiefel, die "eiserne Ration". Drüber: der graue Mantel, Zeltplane, zwei Trinkflaschen. Nach dem Krieg trägt die Wandervogelbewegung die außer Dienst gestellten Tornister romantisch verbrämt weiter.
Der berühmteste Kriegsfilm abseits der Front machte den Trenchcoat zu einem Stück Popkultur: "Casablanca" mit Humphrey Bogart in tragender Rolle. Seinen ersten Auftritt hat der Trench schon viel früher. 1870, im Jahr des deutsch-französischen Kriegs, erfindet der Brite Thomas Burberry den wasserabweisenden, reißfesten Stoff Gabardine und näht daraus Mäntel, deren Robustheit ihm einen Großauftrag der britischen Armee sichert.
Im Ersten Weltkrieg gehört das schnittige Stück Funktionskleidung zur khakifarbenen Uniform der Briten und gewinnt unter neuem Namen neue Popularität: Trench Coat - Schützengrabenmantel. Danach wird der Mantel, der seinen Träger gleichzeitig militärisch und zivil wirken lässt, zur zweiten Haut tougher Jungs weltweit.
Dass die Gürtelschlaufen der Befestigung von Handgranaten dienten, hängt dem Mantel ebensowenig nach wie die Tatsache, dass auch Hitler gern Trench trägt. Die ersten Fotos, die sein Hausfotograf Heinrich Hoffmann 1924 schießt, zeigen ihn im Britenmantel.
Danach posiert der künftige Führer auf Pressefotos und Postkarten immer wieder im Trench. Dem hat das offensichtlich nicht geschadet. Schließlich, so unlängst die "Zeit": "An ihm perlt alles ab."
"Krieg! - Ein Weltkrieg! Wer hat dieses Wort geprägt?" fragt die Heimatschriftstellerin Lena Christ in ihren Aufzeichnungen "Unsere Bayern Anno 14" - ein Wort, das so furchtbar sei, dass es zuvor nur "alte Kaffeebasen und Wahrsagerinnen" in den Mund genommen hätten.
Schon 1915 erscheint diese "Illustrierte Geschichte des Weltkriegs". Das Cover stammt vom Münchner Maler Anton Hofmann.
Nicht nur. Die Vokabel ist bereits im 19.Jahrhundert bekannt und meint zuerst die Napoleonischen Kriege. Auch der Krimkrieg 1853-1863 trägt viele Züge eines Weltkriegs. In den Feldpostbriefen ab 1914 begegnet man der Bezeichnung zunächst kaum - ist der Krieg bis zum Angriff der Engländer auf Gebiete des Osmanischen Reichs im Nahen Osten doch ganz überwiegend ein europäischer Konflikt.
Ab dem Kriegseintritt der USA spielt das Wort auch in der Literatur eine Rolle: Oft heroisch wie in den Schriften Ernst Jüngers, mitunter ironisch wie bei Karl Kraus, der in seinem Fortsetzungsdrama "Die letzten Tage der Menscheit" über den eher weltfremden österreichischen Außenminister Leopold "Poldi" Berchtold sagen lässt: "Wann 's nach ihm gegangen wär', wär' der Weltkrieg auf Serbien lokalisiert geblieben." 1929 steht das Wort im Duden.
Beklemmend früh taucht die pessimistische Kennzeichnung des großen Schlachtens als "Erster" Weltkrieg auf: Wikipedia schreibt sie dem englischen Offizier Charles à Court Repington zu, der 1920 ein Buch mit dem Titel "The First World War 1914-1918. Personal Experiences" veröffentlichte. In Großbritannien wie auch in Frankreich wird die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts (George F. Kennan) bis heute meist als "Great War" bzw. "Grande Guerre" überliefert. Mit "Der große Krieg" ist auch ein aktuell erschienenes Standardwerk des Politologen Herfried Münkler überschrieben.