9. Oktober 1971 Karl-Marx-Monument wird enthüllt
Chemnitz hieß noch Karl-Marx-Stadt, als dort am 9. Oktober 1971 der monumentale Bronze-Kopf von Karl Marx eingeweiht wurde. Erich Honecker sprach vom Beginn einer neuen Epoche, die Chemnitzer nannten den Platz nun "Schädelstätte".
09. Oktober
Mittwoch, 09. Oktober 2013
Autor(in): Prisca Straub
Sprecher(in): Andreas Wimberger
Illustration: Angela Smets
Redaktion: Thomas Morawetz
40 Tonnen Bronze sind alles andere als erhebend: Allein schon materialbedingt ist das Chemnitzer Monumental-Porträt von Karl Marx also eine eher düstere Erscheinung. Die Augen sind tief hinter Tränensäcken versunken, und der Blick ist so unerbittlich, dass die Philosophenbüste eher bedrohlich als altersweise von ihrem Granit-Sockel hinunterstarrt. Als "größter modellierter Kopf seit Entstehung der ägyptischen Sphinx" wurde der Sieben-Meter-Schädel vom SED-Regime gefeiert und das Stadtzentrum zu einem Ehrfurcht gebietenden Aufmarschplatz planiert. Zur Enthüllung des kritischen Kopfes kamen mehr als 250.000 DDR-Bürger; der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker sprach vom lebendigen Marxismus auf deutschem Boden und dem Beginn einer neuen Epoche. Doch genau genommen war dieser 9. Oktober 1971 schon der Anfang vom Ende.
Die Stadt, die Karl Marx zu Lebzeiten nie betreten hatte, trug nur widerwillig seinen Namen. Der windumtoste Aufmarschplatz erhielt die abschätzige Bezeichnung "Schädelstätte", und das unwirsche Antlitz des Philosophen heiterte sich partout nicht auf: weder durch die Jungs und Mädels von der FDJ, die zu Tausenden, fröhlich singend an ihm vorbeimarschierten, noch durch das rote Halstuch, das man Marx jedes Jahr zum ersten Mai umband. Bald waren sich die Genossinnen und Genossen einig: Schuld an der penetrant schlechten Laune ihres Idols war das Gebäude gegenüber. Dort warb nämlich ein Intershop mit einer bunten Palette an Westprodukten. Dem Autor des "Kapitals" mit Sicherheit ein Dorn im Auge.
Seither hat das kolossale Marx-Porträt so manches kommen und gehen sehen. Doch die Stimmung hat sich dadurch keinesfalls verbessert: Aus der einstigen sozialistischen Musterstadt wurde im Handumdrehen ein Paradebeispiel für paranoiden Plattenbau und marode Gründerzeit. Der Intershop verschwand; McDonalds zog ein. Und im Domizil der ehemaligen SED-Bezirksleitung machte sich vorübergehend das Arbeitsamt breit. Schlechte Zeiten also für einen zornigen Dickschädel.
Zwischenzeitlich sah es sogar so aus, als würde auch den tonnenschweren Denker das Wende-Schicksal ereilen: Doch während landauf landab Arbeiter- und Bauern-Denkmäler, heroisierende Lenindarstellungen und stahlharte Kämpfer der sowjetischen Armee auf dem Schutthaufen der Geschichte landeten - der Vorzeige-Kommunist blieb unangetastet auf seinem Sockel. Die Karl-Marx-Städter wollten zwar so schnell wie möglich ihren ungeliebten Namen loswerden, ihr Wahrzeichen aber, das gaben sie nicht mehr her. Im Gegenteil: Als man aus dem fernen Münster höflich anfragte, ob die Monumental-Plastik für eine Ausstellung - also leihweise - zu haben sei, verweigerten die frisch gebackenen Chemnitzer kategorisch die Ausreise in den Westen. Und blieben dabei.
Heute nennt sich die sächsische Industriestadt schmunzelnd und etwas selbstverliebt "Stadt mit Köpfchen". Wenn Marx den Blick ein wenig höbe, dann sähe er, was damit gemeint ist: Eine gläserne Riesenwelle schiebt sich jetzt wie ein Tsunami durch die Innenstadt: die neue Behausung für Peek und Cloppenburg. Internationale Stararchitekten haben dem Chemnitzer Zentrum außerdem ein "Gläsernes Kaufhaus" und den Konsumtempel "Galerie Roter Turm" beschert - eine Art zweckentfremdeten venezianischen Dogenpalast aus Terrakotta Ziegeln. Dort gibt es auch Karl-Marx-Kopien - ab 3 Euro 99 und aus Schokolade. Ein paar Meter weiter legt der ansonsten recht unverdauliche Autor des "Kommunistischen Manifests" die hohe Denkerstirn in ärgerliche Bronze-Falten: "Immer dieser Ärger mit dem Kapital!"