11. November 1858 Moreschi, der letzte Kastrat, geboren
Im Zeitalter des Barock waren Kastratensänger beliebte Stars. Obwohl die Kastration verboten war, wurden in Italien auch im 19. Jahrhundert noch Knaben kastriert. Autorin: Christiane Neukirch
11. November
Freitag, 11. November 2016
Autor(in): Christiane Neukirch
Sprecher(in): Andreas Wimberger
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Der Trompeter mühte sich umsonst: So lang sein Atem auch reichen mochte, so hoch er auch die Töne jubeln ließ - sein Gegenüber hielt sie länger, jubelte höher. Und schließlich jubelte das Publikum, besonders die Frauen: Sie schrieen, johlten, trampelten für ihren Star. Ein junger Mann von siebzehn Jahren hatte den Trompeter in die Knie gezwungen - nicht mit gleichen Waffen, sondern mit einer engelsgleichen Sopranstimme.
Berufsziel Kastrat
Farinelli war sein offizieller Künstlername, aber man nannte ihn "il ragazzo", das Kind. Denn ob er als Mann durchging, darüber ließ sich vortrefflich streiten. Ruhm und Häme waren zwei Seiten seiner goldenen Medaille. Hatte doch seine Stimme, derentwegen die Damen reihenweise in Ohnmacht fielen, auch einen hohen Preis: den seiner Männlichkeit. Denn Farinelli war ein Kastrat – Anfang des 18. Jahrhunderts ein vielfach angestrebter Beruf. Als Chorknaben fingen sie an. Ihre Ausbildung war hervorragend; darum kümmerte sich die Kirche. Denn je besser der Chor, desto großzügiger die Spenden.
Ende des 16. Jahrhunderts hatte der Papst ein Dekret erlassen, das Frauen die Mitwirkung im Chor untersagte. Die Kinderstimmen der jüngsten Schüler konnten die hohen Lagen mühelos meistern. Was aber, wenn die Sänger in die Pubertät kamen, wenn die helle Knabenstimme zu brechen drohte? Das Wachstum der Stimmbänder ließ sich nur mit einer drastischen Maßnahme aufhalten: einem kurzen, aber folgenschweren Eingriff, der die Entwicklung zum Mann ein für alle Mal unterband. Freilich wurde über diese Methode geschwiegen. Denn Kastration war offiziell verboten. Eltern, die für ihre Söhne eine Kastratenkarriere planten, erfanden Unfälle. Farinelli wurde erzählt, er sei als Kind vom Pferd gestürzt und dabei schwer verletzt worden. Nur etwa die Hälfte aller Jungen überlebte den Eingriff. Da er heimlich durchgeführt werden musste, legten nicht Ärzte, sondern Laien Hand an, meist mit unhygienischen Werkzeugen. Von den Überlebenden war nur ganz wenigen die große Karriere vergönnt.
Alle anderen mussten ohne Aussicht auf Ruhm und Geld mit den Folgen leben: Nicht nur waren sie zeugungsunfähig; ihre Gliedmaßen wuchsen zu einer grotesken Länge, mit zunehmendem Alter wurden sie fettleibig, unförmig und zum Gespött der Leute.
Der letzte der Kastraten
Mit dem Ende des Barock ebbte auch der Kult um die Kastraten ab. Dennoch gab es sie weiterhin, vor allem in den Kirchenchören. Bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein sangen sie zum Beispiel in der Sixtinischen Kapelle. Einer der letzten war Alessandro Moreschi, geboren am 11. November 1858.
Zu seiner Zeit wurde er kaum beachtet. Die Musik setzte längst nicht mehr auf die Wirkung der Kastratenstimmen. Aber mit Moreschis Hilfe können heute wir erahnen, wie sie geklungen haben. Er ist der einzige, von dem Tonaufnahmen existieren. Was man hört, ist zunächst ernüchternd: die seltsam quäkende Stimme eines alten Mannes, weit entfernt vom Glanz der großen Virtuosen und ihrer Betörungskunst. Doch verhalfen genau diese Tondokumente fast ein Jahrhundert später dem Mythos Farinelli zur Auferstehung. 1994 verfilmte man dessen Leben. Woher aber seine Stimme nehmen? Die Zeit der Kastraten war zum Glück endgültig vorbei. Das neue Wundermittel hieß Digitaltechnik. Mit dem Wissen um Moreschis Timbre mischte man aus dem Gesang einer Sopranistin und eines Countertenors eine Stimme, die in sich vereinte, was ein Zeitgenosse Farinellis so beschrieb: "Es liegt etwas Sprödes und Herbes in ihrem Gesang, das von der weichen Lieblichkeit der Frauenstimme weit entfernt ist, aber ihre Stimme hat Glanz und Leichtigkeit, dabei Kraft und Umfang."