15. November 1923 Franz Kafkas Freundin hilft beim Umzug
Jahrelang will niemand zu dem eigenartigen und melancholischen Dichter passen. Als Franz Kafka endlich die patente und warmherzige Frau findet, mit der an seiner Seite das Leben so richtig beginnen könnte, ist er bereits zu krank. Doch besser ein kurzes Glück, als keines. Autorin: Julia Devlin
15. November
Freitag, 15. November 2024
Autor(in): Julia Devlin
Sprecher(in): Irina Wanka
Redaktion: Susi Weichselbaumer
In seinem letzten Lebensjahr fand der Schriftsteller Franz Kafka seine große Liebe. Im Ostseebad Müritz hatte er Dora Diamant kennengelernt. Er kam dorthin aus Prag, um Erholung zu suchen, sie kam dorthin aus Berlin, weil sie in der Ferienkolonie des Jüdischen Volksheims polnische Flüchtlingskinder betreute. Der vierzigjährige, tuberkulosekranke Frühpensionär und die fünfundzwanzigjährige Wirtschafterin, die die Enge ihrer ostjüdischen Herkunft hinter sich gelassen hatte, wurden ein Paar. Dora war der Grund, dass Franz tatsächlich nicht nur seiner familiären Umklammerung, sondern auch seiner Heimatstadt Prag entkam, diesem "Mütterchen mit Krallen" und in die Stadt zog, die für ihn den Himmel über der Erde bedeutete: Berlin.
Die Eine!
Dora hatte für ihn ein möbliertes Erkerzimmer in der Miquelstraße gefunden, im grünen Süden von Berlin, dort, wo man noch den ländlichen Charakter des früheren Dorfes Steglitz spürte. Sie reiste jeden Tag aus dem Scheunenviertel an und stand ihm bei, als Freundin, Haushälterin, Krankenschwester, Geliebte.
Doch das Glück in der Miquelstraße währte nur wenige Wochen. Denn Kafka hatte sich den denkbar schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht, nach Berlin zu ziehen: Deutschland bewegte sich auf den Höhepunkt der Inflation zu. An seine Schwester schrieb Kafka leichthin, dass die Preise in Berlin kletterten wie die Eichhörnchen daheim, aber in Wirklichkeit hatte er große Sorgen, ob er sich das Leben hier noch leisten konnte. Seine Vermieterin, Frau Hermann, machte dem Schriftsteller das Leben schwer.
Für das Zimmer, das er im August für vier Millionen Mark gemietet hatte, verlangte sie im Herbst eine halbe Billion, quälte ihn mit der Ankündigung weiterer Mietsteigerungen, beschwerte sich über seinen Stromverbrauch und vermutlich auch über den Damenbesuch, und Anfang November verkündete sie ihm schließlich, dass er ausziehen müsse.
Mehr Miete!
Deshalb suchte Dora eine neue Bleibe für ihren Geliebten und fand sie, nur zwei Straßen weiter. Das genaue Umzugsdatum hielt Kafka vor der Vermieterin geheim. Eine Akt der Rache, genau wie die ironiegetränkte Kurzgeschichte "Eine kleine Frau", die er während dieser Herbsttage schrieb und in der er seiner Vermieterin ein äußerst negatives literarisches Denkmal setzte.
Am Vormittag des 15. November 1923 trat Franz Kafka ein letztes Mal aus der Tür des Mietshauses in der Miquelstraße. Er fuhr nach Berlin, um eine Vorlesung anzuhören, traf dann in der Friedrichstraße zufällig einen alten Bekannten, wurde von ihm zum Mittagessen eingeladen, und als er endlich um sechs Uhr abends am Gartentor seines neuen Domizils in der Grunewaldstraße läutete, fand er seine neue, schöne Wohnung eingeräumt vor. Dora hatte seine Sachen gepackt und mit einem Handkarren in die neue Bleibe gebracht.
Das Paar zog noch ein weiteres Mal um, nach Zehlendorf. Über den Winter verschlechterte sich Kafkas Gesundheitszustand rapide, und im Frühjahr war sein Berliner Traum ausgeträumt, beendet von der fortschreitenden Tuberkulose, die ihn zwang, sich in ein Sanatorium zu begeben.