14. Juni 1942 Anne Frank beginnt ihr Tagebuch
Die Eltern hatten Anne Frank ein rotgrau-kariertes Tagebuch geschenkt, eine Initiation in die Teenagerzeit. Der erste längere Eintrag vom 14. Juni 1942 berichtet von ihrem letzten Geburtstag in Freiheit.
14. Juni
Freitag, 14. Juni 2013
Autor(in): Brigitte Kohn
Sprecher(in): Ilse Neubauer
Illustration: Angela Smets
Redaktion: Thomas Morawetz
Miep Gies geht oft in die Räume des Amsterdamer Hinterhauses, um die acht untergetauchten Juden zu besuchen, die sie beschützt. Eines Tages überrascht sie die Jüngste von allen, wie sie am Tisch sitzt und schreibt. Anne Frank freut sich normalerweise immer, wenn Miep kommt, aber jetzt wirkt ihr Gesicht verschlossen, sie hebt den Kopf und ihre Augen schießen Blitze. Miep erschrickt regelrecht. Sie hat diesen Moment nie vergessen, ihr ganzes Leben lang nicht. Anne wirkt fast ein bisschen dämonisch. Das Schreiben ist ihre wichtigste Waffe im Kampf ums seelische Überleben. Es ist kein Spaß.
Baldriantabletten gegen Depressionen
Ein Spaß war es früher, als sie 13 Jahre alt wurde. Es war ihr letzter Geburtstag in Freiheit. Anne beschreibt ihn in ihrem ersten längeren Eintrag vom 14. Juni 1942. Da freut sie sich über ihr rotgrau-kariertes Tagebuch mit Verschluss, ein Geschenk der Eltern, Initiation in die Teenagerzeit. Der Traubensaft auf dem Gabentisch schmeckt ein bisschen nach Wein, findet sie. Die Kindheit liegt hinter ihr. Sie flirtet gern mit ihren jungen Verehrern in der nahe gelegenen Eisdiele, der einzigen, die für Juden erlaubt ist. Mit ihrer Mädchenclique, sie heißt "Der kleine Bär minus zwei", trifft sie sich oft zum Pingpongspielen.
Wenig später im Versteck gibt es statt Teenager-Partys Bombennächte ohne Fluchtweg, Todesangst bei unbekannten Schritten auf der Treppe, Alpträume vom Schicksal der Deportierten und Baldriantabletten gegen Depressionen. Im Versteck denkt Anne darüber nach, ob Vergasung wohl die schnellste Art zu sterben ist. Sie klagt um deportierte Freunde, verflucht ihre Verfolger und aktiviert schreibend alle verfügbaren Lebensquellen: die Sehnsucht nach Liebe und Erotik, die Freude an der Natur, vertreten durch den Kastanienbaum vor dem Fenster, die Suche nach Gott und einer weltoffenen jüdischen Identität, ihren Humor, ihren rebellischen Geist. Schreibend entwickelt dieses Mädchen einen Zugang zum Leben, dessen Kraft, Tiefe und Menschlichkeit ihre Texte unsterblich machen.
Und andererseits bleibt sie eine ganz normale Jugendliche ihrer Zeit, die für Filmstars schwärmt, beliebte Mädchenbücher liest und die die Erwachsenen viel zu vorlaut finden.
Rebellische Passagen
Die Nachkriegsfassung des veröffentlichten Tagebuchs entschärft viele rebellische Passagen und lässt Stellen weg, in denen von familiären Konflikten, Annes erotischer Neugier oder ihrer Wut auf die Deutschen die Rede ist. Verständlich, so kurz nach dem Krieg wollte Annes Vater, der einzige Überlebende, Brücken schlagen und die Privatsphäre der Toten schützen. Inzwischen gibt es eine neue Ausgabe, in der Annes Stimme unmittelbarer wirkt, unverfroren manchmal, überschäumend, unfertig, verletzlich und verletzend, suchend, widersprüchlich, wie Jugendliche eben sind. Wie die anderen anderthalb Millionen kindlichen Opfer der Massenvernichtung auch waren. Das macht Annes hoffnungslosen, qualvollen Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen noch unbegreiflicher, noch unfassbarer.