16. Oktober 1834 Brand im Palace of Westminster
Am 19. Oktober 1834 stand der Palace of Westminster hell in Flammen. Die Brandursache waren alte Schulden. Soweit konnte es nur kommen, weil die Briten so viel auf dem Kerbholz hatten.
16. Oktober
Mittwoch, 16. Oktober 2013
Autor(in): Anja Mösing
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Angela Smets
Redaktion: Thomas Morawetz
Es war am 16. Oktober 1834, als in London an der Themse ein gewaltiges Feuer brannte. Ein Scheiterhaufen böser Erinnerungen, gespickt mit uralten Schulden! Ja, Schulden! Wie konnten die anfangen zu brennen? Richtig genommen kam das so:
Der Mensch hat einen Hang zu Notizen. Die machen wir uns offenbar seit eh und je. Mindestens aber seit wir nicht mehr alles selbst erledigen können: Ziegenhüten und Weizen anbauen. Schafe scheren und Bier brauen. Seitdem wir uns so einiges aufteilen untereinander, müssen Dinge notiert werden. Woher sollen wir sonst im Herbst noch wissen, mit wie vielen Ziegen wir den Neffen im Frühling auf die Weiden geschickt haben? Wir haben ja noch an anderes zu denken! Zum Beispiel daran, wie viel Bier wir im letzten Monat bei unserem Nachbarn geholt haben? - Keine Ahnung!
Einiges auf dem Kerbholz
Ohne Notizen - geht eben gar nichts! Und früher mussten das auch ganz einfache sein. So haben sich unsere Vorfahren etwas absolut Gutes, Einfaches und Eindeutiges ausgedacht. Etwas, das jeder gleich beherrscht hat und keine Streitigkeiten zuließ, rund um die Welt: kleine Kerben.
Seit frühester Zeit kerbten Menschen nahezu aller Völker. Und zwar in Holz. Als Notizen. Und wenn es drauf ankam, ging das auf unfälschbare Weise: Man nahm einen Holzstab, der wurde der Länge nach gespalten. Dann hielt man beide Holzteile passgenau aneinander, um die exakte Anzahl von Schafen, Bieren oder Ähnlichem durch Kerben zu verewigen. Und zwar quer über beide Teile des Kerbholzes hinweg. Dann nahm zum Beispiel der Neffe den einen Teil des Kerbholzes mit auf die Weiden. Und der Onkel hatte den anderen Teil zuhause. Kam der Ziegenhüter nach Monaten wieder mit der Herde zurück, war ganz klar, ob der seine Sache gut gemacht hatte, oder unterwegs mehr Ziegen gegessen als gehütet hatte. Zum Beispiel.
Diese fälschungssicheren Kerbhölzer waren aber nicht bloß bei frühzeitlichen Ziegenhirten beliebt. Auch der römische Historiker Plinius erörterte in einer Schrift ideale Hölzer für Kerbstöcke. Und der venezianische Kaufmann Marco Polo sah sie selbst auf seinen Reisen durch das ferne China.
Bei uns Europäern waren Kerbhölzer noch lange nach Einführung von Zahlen, Schrift und Papier sehr beliebt. Den Engländern schienen sie für Steuer- und andere Schuldverschreibungen geradezu unverzichtbar. Weshalb die Bank von England tatsächlich noch bis ins Jahr 1826 mit Kerbhölzern arbeitete. Optisch zwar leicht modernisiert, im Prinzip aber stets dasselbe: fälschungssicher und aus Holz.
Brandgefährliche Idee
Und jetzt kommt das Feuer ins Spiel! Irgendwann schien dieses Verfahren selbst den traditionsbewussten Engländern altertümlich und das Parlament beschloss seine Abschaffung durch eine Steuerreform. Aber was sollte man mit den unzähligen, nun wertlos gewordenen Kerbhölzern anstellen? Den Zeugnissen uralter Schulden? Man beschloss, sie im Innenhof des Palace of Westminster, dem Sitz des Parlaments, zu verbrennen. Eine sicher feierliche und symbolträchtig gemeinte Geste, so ein Scheiterhaufen böser Erinnerungen. Aber leider brandgefährlich: Nachdem an diesem 16. Oktober 1834 das Feuer in dem Haufen Tausender alter Kerbhölzer entzündet worden war, griffen die Flammen über auf die umliegenden Parlamentsgebäude. Schnell stand der Palace in Flammen. Verzweifelte Lords warfen bündelweise wichtige Dokumente aus den Fenstern in Seitenhöfe, um sie vor den Flammen zu retten. Das Gebäude aber brannte fast vollständig ab. Nur, was im besonders sicher gebauten Tower, wo die Kronjuwelen lagern, untergebracht war, überstand diesen großen Brand.
Vielleicht ist die Sache mit den Kerbhölzern nur ein leuchtendes Beispiel dafür, dass große Ideen nicht auf Scheiterhaufen gehören. Egal wie unzeitgemäß sie scheinen.