22. Oktober 1207 Till Eulenspiegel lehrt einen Esel das Lesen
Till Eulenspiegel hatte sich als wohl erster Experimentator des Problems der Lesefähigkeit von Tieren angenommen. Am 22. Oktober 1207 führte er in Erfurt den entsprechenden Versuch mit einem Esel vor.
22. Oktober
Dienstag, 22. Oktober 2013
Autor(in): Herbert Becker
Sprecher(in): Andreas Wimberger
Illustration: Angela Smets
Redaktion: Thomas Morawetz
"Leseverständnis" ist ein Wort, das man erst im Zusammenhang mit der Pisa-Studie gelernt hat. Leseverständnis zu besitzen bedeutet, geschriebene Texte verstehen, nutzen und über sie reflektieren zu können, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiter zu entwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Davon, dass man sich sprachlich elegant ausdrücken können müsste, ist in dieser Definition nicht die Rede. Sie sagt auch nichts darüber aus, wann man einen geschriebenen Text tatsächlich verstanden hat und was es genau bedeutet, über ihn zu reflektieren.
Fragwürdiges Experiment
Eine weitere bislang ungeklärte Frage ist diejenige, wie viel Leseverständnis Tiere mitbringen. Eine frühe, an der Universität Erfurt durchgeführte Untersuchung scheint darauf hinzuweisen, dass die hier vorhandenen Fähigkeiten stark unterschätzt werden. Dass dieses, an einem Esel vorgenommene Experiment bereits am 22. Oktober 1207 stattgefunden hat, mindert seine wissenschaftliche Bedeutung nicht. Zu denken gibt allerdings etwas anderes: Die einzige Quelle, aus der wir etwas über den seinerzeitigen Test erfahren, ist der im Jahre 1510 erschienene Schwankroman "Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel". Dessen Verfasser Hermann Bote jedoch unterschlägt aus einem nicht einsehbaren Grund die Tatsache, dass die Universität Erfurt erst 1392, also 185 Jahre nach der Untersuchung, gegründet wurde.
Jedenfalls soll im Erfurt des Jahres 1207 Folgendes geschehen sein: Till Eulenspiegel hatte mit der Behauptung, jeglicher Kreatur in kurzer Zeit das Lesen und Schreiben beibringen zu können, einiges Aufsehen erregt. Die Professoren der Universität forderten ihn nun auf, seine pädagogischen Fähigkeiten an einem Esel zu demonstrieren. Dem kam Eulenspiegel nach, indem er Hafer zwischen die Seiten eines Buches streute und dieses in eine Futterkrippe legte.
Der Esel blätterte, um an das Fressen zu kommen, mit dem Maul eine Seite nach der anderen um, und als er keinen Hafer mehr fand, rief er "I-A, I-A" - woraufhin Eulenspiegel dem Rektor erklärte, dass sein Schüler einige Vokale bereits kenne.
Till Eulenspiegel und Mr. Carlson
Gut, die Note eins im Fach Leseverständnis würde das Tier für diese Leistung wohl nicht bekommen, immerhin aber hat es gezeigt, dass es in der Lage ist, einen geschriebenen Text zur Verfolgung eigener Ziele zu nutzen. Es hat sich zwar nicht mit dem aufgehalten, was zwischen den Zeilen stand, aber es hat hübsch etwas zwischen den Seiten herausgelesen und - wer weiß? - vielleicht sogar darüber reflektiert. Und das ist im Vergleich mit dem, was mancher Germanistikstudent von heute zustande bringt, nicht wenig. Es ist nämlich ein Irrglaube, anzunehmen, dass etwa ein Teilnehmer an einem Hauptseminar über Thomas Mann, der, sagen wir, ein Referat über die Buddenbrocks halten soll, die Schwarte tatsächlich liest. Dem könnte man noch so viel Hafer zwischen die Seiten streuen - er würde das Buch nicht anrühren. Der trägt stattdessen eine Inhaltsangabe vor, die er sich aus dem Internet herunter geladen hat, und hinterher fragen ihn die anderen Seminarteilnehmer, ob sie nicht ein handout von seinem Referat haben könnten! Ein handout - das ist eine Fotokopie vom Text des Referierenden.
Es ist nicht zu vermuten, dass Till Eulenspiegel, der sich mit dem "I-A, I-A" des Esels zufrieden gegeben hat, dieses Verfahren akzeptieren würde. Aber es ist müßig, darüber zu spekulieren. Eulenspiegel hat - wenn überhaupt - ein paar Jahrhunderte vor der Erfindung des Kopiergeräts gelebt. Die erste Fotokopie wurde nämlich erst 1938 gemacht und zwar auch an einem 22. Oktober, von dem New Yorker Physiker Chester Floyd Carlson.
Gewiss, Mr. Carlsons Erfindung hat der Menschheit einiges an Arbeit erspart. Das Leseverständnis allerdings hat sie ganz gewiss nicht gefördert.