25. August 1950 Kurosawas "Rashomon" kommt in die Kinos
Eine Geschichte aus vielen verschiedenen Perspektiven? Geht das? Im Film? Ja, sagt man heute. Erfunden hat es der japanische Regisseur Akira Kurosawa aber schon 1950 - mit "Rashomon". Es war der Durchbruch des japanischen Films. Autorin: Isabella Arcucci
25. August
Dienstag, 25. August 2015
Autor(in): Isabella Arcucci
Sprecher(in): Caroline Ebner
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Ryunosuke fürchtete sich, wenn er die Stiege im Haus seines Vaters, in Tokyo, hinaufkletterte. Dort oben unter dem Dach wohnte ein Wesen, von dem die Erwachsenen sagten, es habe den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Die Frau in dem Zimmer im oberen Stockwerk war wahnsinnig. Meist saß sie da, blass, mit leerem Blick und paffte ihre Pfeife. Doch Ryunosuke war auch neugierig. Die Irre schien ein Geheimnis in sich zu tragen, von dem die “normalen“ Erwachsenen nichts wussten.
Füchse in Kimonos
Nur wenige Monate nachdem sie Ryunosuke im Jahr 1892 geboren hatte, war Fuku verrückt geworden. Seitdem lebte sie abgeschottet im oberen Stockwerk im Hause ihres Ehemannes. Ryunosuke wuchs bei Onkel und Tante auf. Tagsüber erhielt der Junge eine vorzügliche Schulbildung. Abends lauschte er den Gespenstergeschichten des Dienstmädchens, die von Fuchsgeistern erzählte, welche sich in schöne Frauen und stattliche Krieger verwandelten, um einfältige Menschen ins Verderben zu locken. Ab und an musste Ryunosuke seinen Vater besuchen, einen groben, unfreundlichen Mann. Dann kletterte der Junge manchmal die Stiege hinauf zu seiner Mutter. Sie erkannte ihren Sohn nicht, aber sie zeichnete für ihn: bunte Bilder von Leuten in prächtigen Kimonos. Doch die Gesichter der Figuren waren nicht menschlich, es waren allesamt Füchse. Fuchsgeister … Daran sieht man, dass sie irre ist, dachte das Kind. Aber, vielleicht hatte die Mutter ja gar nicht den Bezug zur Wirklichkeit verloren, sondern war vielmehr dazu in der Lage, mehr in der Wirklichkeit zu sehen, als die sogenannten “normalen“ Menschen. Vielleicht kam die Mutter den Menschen nur verrückt vor, weil sie erkannt hatte, dass es gar keine Realität gab, sondern, dass jeder seine eigene Version der Wirklichkeit in sich trug.
Drei Versionen einer Wirklichkeit
So wie in der Geschichte “Im Dickicht“, die der erwachsene Schriftsteller Ryunosuke Akutagawa später niederschrieb. Darin lockt ein Räuber ein junges Ehepaar in einen Hinterhalt. Am Ende ist die Frau entehrt. Ihr Mann liegt erstochen im Dickicht. Ryunosuke Akutagawa erzählt die Geschichte aus drei Perspektiven: aus der Sicht des Räubers, der Frau und ihres toten Ehemanns. Jeder der drei Erzähler gibt eine völlig andere Version des Geschehens wieder. Wer ist wirklich Täter und wer Opfer? Wo hört die Realität auf und wo beginnen die Wahnvorstellungen jedes Einzelnen? Und: ist im Grunde nicht jeder Mensch wie ein Fuchsgeist, der bloß danach giert, andere ins Verderben zu stürzen? Ryunosuke Akutagawas oft phantastisch anmutende Erzählungen fördern die unbewussten, dunklen Seiten der menschlichen Psyche zu Tage.
Damit faszinierte er nicht nur früh seine Leser, sondern Jahre später auch das internationale Kinopublikum. Am 25. August 1950 feierte der Film “Rashomon“ Premiere. Darin kombinierte der Regisseur Akira Kurosawa die Geschichte „Im Dickicht“ mit einer weiteren Erzählung Akutagawas. Der Film wurde international mit Preisen überhäuft. Es war der weltweite Durchbruch des japanischen Films - und eine Hommage an Japans großen Schriftsteller Ryunosuke Akutagawa. Er selbst erlebte sie nicht mehr. In seinen letzten Jahren litt Ryunosuke unter dem Gefühl, wahnsinnig zu werden - wie seine Mutter. Einige der besten Erzählungen der Literaturgeschichte verdankt die Welt Ryunosuke Akutagawas Gabe, in der sichtbaren Wirklichkeit mehr zu erkennen, als die sogenannten “normalen“ Menschen. Für ihn selbst jedoch, wurde diese Gabe zur unerträglichen Last. Im Jahr 1927 nahm Ryunosuke sich das Leben, mit nur 35 Jahren.