31. August 1935 Sowjetischer Bergmann stellt Arbeitsrekord auf
Für was soll der Mensch eher kämpfen, für das Recht auf Arbeit oder das Recht auf Faulheit? In der Familie von Karl Marx ging beides, in der marxistischen Sowjetunion nicht. Da schaffte am 31. August 1935 Alexei Grigorjewitsch Stachanow einen einsamen Arbeitsrekord.
31. August
Mittwoch, 31. August 2011
Autor(in): Thomas Grasberger
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Redaktion: Thomas Morawetz / Wissenschaft und Bildung
Dass der Mensch durch Arbeit nicht reich wird, ist eine Binsenweisheit, über die weitgehend Einigkeit herrscht. Weniger eindeutig lässt sich die Frage beantworten, ob Arbeit glücklich macht. Ob sie unserem Leben Sinn und Zufriedenheit gibt, und wir sie deshalb dringend brauchen. Daran scheiden sich die Geister, manchmal auch innerhalb einer Familie. Zum Beispiel in der Familie Marx. Karl Marx etwa war fest davon überzeugt, dass der Mensch ohne Arbeit nicht auskommt. Sofern sie nicht entfremdet ist. Wenn der Klassengegensatz erst einmal überwunden ist, kann sich der werktätige Mensch voll entfalten. Arbeit muss also sein, meinte Marx.
Das sah der Mann seiner Tochter Laura freilich ganz anders. Statt Konsumzwang und Recht auf Arbeit forderte der französische Sozialist Paul Lafargue ein "Recht auf Faulheit". In seinem gleichnamigen Buch schreibt er von einer "seltsamen Sucht", die die Arbeiterklasse aller Länder beherrsche: "Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht." Ganz anders als sein Schwiegervater sah Lafargue also bereits im Fortschrittsgedanken eine Ursache für das menschliche Elend.
Als dann 1917 in Russland ein Arbeiterparadies namens Sowjetunion ausgerufen wurde, da wählte man dort - wen wundert es! – nicht Lafargue, sondern seinen Schwiegervater zum Namensgeber für die neu entstehende Staatsreligion. Das lag vielleicht auch daran, dass sich der Name Marx besser dafür eignete. Denn "Lang lebe der Lafarguismus-Leninismus" - nun, das wäre wohl nicht einmal den eloquentesten Parteisekretären leicht über die Lippen gegangen. Jedenfalls setzte sich Karl Marx auch mit seinem hehren Arbeits-Begriff durch, und bald gab es in der Sowjetunion den Ehrentitel "Held der sozialistischen Arbeit".
Ein absoluter Superheld war Alexei Grigorjewitsch Stachanow. Dieser ukrainische Bergmann förderte nämlich am 31. August 1935 in einer Kohlegrube im Donezbecken in einer einzigen Schicht 102 Tonnen Kohle. Damit übererfüllte er die gültige Arbeitsnorm um das 14-fache. Dass der Rekord nicht ganz sauber über die Schippe ging, lag nicht nur am Kohlenstaub.
Denn Stachanow hatte angeblich sieben Zuarbeiter, und bei der Endabrechung wurde wohl rechnerisch auch ein wenig nachgeholfen. Aber egal. Stachanow war ein Held der Arbeit, auch wenn er den Titel erst viel später bekommen sollte. Immerhin wurde der Vorzeigearbeiter von Stalin empfangen, und man hat sogar eine Stachanow-Bewegung zur Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Sowjetunion ins Leben gerufen. Richtig reich ist Genosse Stachanow natürlich nicht geworden, trotz Lohnerhöhung und Ehrenplatz im Klubhaus.
Aber hat ihn die Arbeit wenigstens glücklich gemacht? Schließlich lebte er ja im Arbeiterparadies, Arbeit war also per Definition nicht entfremdet. Die Antwort lautet: Njet! Stachanow wurde depressiv, trank immer mehr und starb am Ende vereinsamt und fast vergessen. Erst 1970, sieben Jahre vor seinem Tod, hat er doch noch den Orden "Held der sozialistischen Arbeit" bekommen. Denn damals war die Arbeitsmoral in der Sowjetunion wieder einmal besonders schlecht und man brauchte ein Vorbild für die faulen werktätigen Massen. Hatten die etwa die Schriften von Marx-Schwiegersohn Lafargue gelesen? Sätze wie: "Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!" Nein, wohl eher nicht. Denn offiziell waren Lafargues Schriften in der sozialistischen Völkerfamilie unerwünscht. "Das Recht auf Faulheit" galt dort als "Untergrabung der Arbeitsmoral". Aber manchmal setzen sich gute Ideen eben auch ohne Lektüre durch.