22. Dezember 1976 ARD-Korrespondent Lothar Loewe wird aus der DDR ausgewiesen
"Hier in der DDR weiß jedes Kind, dass die Grenztruppen den strikten Befehl haben, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen.“ Dieser Satz kostete den ARD-Korrespondenten Lothar Loewe seine Akkreditierung in der DDR. Autor: Hartmut E. Lange
22. Dezember
Dienstag, 22. Dezember 2020
Autor(in): Hartmut E. Lange
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Heiligabend - leise rieselt der Schnee auf die Hauptstadt der DDR. Ein Mann mit hoch gestelltem Kragen verlässt sein Büro in der Schadowstraße. Als er den Bürgersteig betritt, setzen sich mehrere Fußgänger und Autos in Bewegung, sie folgen ihm.
Eine Szene aus einem schlechten Agentenfilm? Nein, absurde Realität aus einem inzwischen untergegangenen Land.
Der gutgekleidete Mann will einen Spaziergang Unter den Linden machen, zum letzten Mal - zum Abschied von Ost-Berlin. Als ihm einer seiner Beschatter zu nahe kommt, bleibt er abrupt stehen, dreht sich um und spricht ihn an.
Sie können unbesorgt sein, ich werde fristgemäß um 16 Uhr die DDR verlassen. Sie und Ihre Kollegen würden jetzt bestimmt auch lieber den Weihnachtsbaum zuhause schmücken. Ein Frohes Fest wünsch ich Ihnen.
Der Stasi-Mann ist völlig überrascht, beschämt schaut er sein Gegenüber an. Vielen Dank, ich werde es ausrichten. Dann steigt er in eines der Autos. Der so auffällig Observierte ist eines der bekanntesten TV-Gesichter in der DDR. Allerdings eins aus dem West-Fernsehen – ARD-Korrespondent Lothar Loewe.
Sagen, wie es sein sollte
Sagen, was ist! Dieser Leitspruch von SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein ist für Journalisten des DDR-Fernsehens kein Credo. Selbst wenn sie es wollten, sie könnten es nicht, denn sie arbeiten für einen Staatssender, der von der Partei kontrolliert wird. Intendant Heinz Adameck gehört zur Führungsriege des Landes, er ist Mitglied des ZK der SED. Probleme des Alltags im Arbeiter- und Bauernstaat werden von seinem Sender selten benannt.
Eher verharmlost, geleugnet, meist verschwiegen. Sagen, wie es sein sollte!, lautet wohl eher das Motto.
Umso interessierter verfolgen die Zuschauer in der DDR Berichte über ihr Land, die von ARD und ZDF gedreht wurden. Die Berichterstatter von Drüben genießen Promi-Status, ihre Gesichter sind in der Bevölkerung genauso bekannt wie die von Angelika Unterlauf und Klaus Feldmann, den Nachrichtensprechern der Aktuellen Kamera - der TAGESSCHAU des Ostens.
In Sendungen wie Kennzeichen D oder Kontraste kommen immer wieder DDR-Bürger zu Wort: Systemkritiker wie Wolf Biermann, Robert Havemann und Rudolf Bahro. Schriftsteller wie Reiner Kunze, Stephan Heym, Erich Loest, und andere kritische Intellektuelle.
Und - die Berichte der West-Journalisten vermitteln oft ein Bild von der wahren Stimmung in der DDR-Bevölkerung, obwohl die Stasi immer wieder Straßeninterviews behindert, und DDR-Bürger, die vor laufenden Westkameras kein Blatt vor den Mund nehmen, in Bedrängnis bringt.
Wer die Wahrheit sagt, fliegt raus
Den Hardlinern im ZK der SED ist der kritische Journalist aus West-Berlin schon lange ein Dorn im Auge, sie wollen den ARD-Mann loswerden.
Am 22. Dezember 1976 wird Lothar Loewe ins Außenministerium der DDR einbestellt. Wegen "grober Einmischung in innere Angelegenheiten der DDR" wird Lothar Loewe mit sofortiger Wirkung die Akkreditierung entzogen. Innerhalb von 48 Stunden muss er das Land verlassen.
Was ist geschehen? Am Abend zuvor hatte die TAGESSCHAU in der Prime Time Ausgabe um 20 Uhr einen Bericht ihres Ost-Korrespondenten zum Stand der innerdeutschen Beziehungen gesendet.
Lothar Loewe beschreibt sie - als Folge der Biermann-Ausbürgerung - als so frostig wie nie zuvor. Auch am Ende seines Beitrags befolgt Loewe Augsteins journalistisches Credo, er sagt, was ist:
Hier in der DDR weiß jedes Kind, dass die Grenztruppen den strikten Befehl haben, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen.
Diese Wahrheit ertragen Honecker und seine Genossen nicht, Loewe muss gehen.