Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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29. September 1872 Auf geht’s beim Schichtl

Für die Einen eine Fetzngaudi, für die Anderen oberm Hirn a no damisch: Die Darbietungen der Schichtlbrüder auf dem Münchner Oktoberfest gefallen nicht jedem, aber vielen. In Bayern gehen die Uhren halt anders und Unterhaltungskunst auch. Insofern: Auf geht´s! Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 29.09.2022 | Archiv

29.09.1872: Auf geht's beim Schichtl

29 September

Donnerstag, 29. September 2022

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Johannes Hitzelberger

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Susi Weichselbaumer

"Rei mit eich, es großkopferte, krachlederne, gstinkerte Ramme. Woanders werd’s b'schissen, bei mir is‘ der Schwindel reell." Das dritte Jahr sind die Schichtlbrüder Julius, Franz und Michael August mit ihrem "Zauber-Theater" jetzt schon auf der Wiesn. Und immer noch gibt' was Neues zum Staunen und Weitersagen. Das glaubst du nicht, was du da siehst, alles Künstler-Spezialitäten ersten Ranges: Schlangenmenschen, Riesen, Zwerge, Akrobaten, Magier treten auf, Feen tanzen, Geister und Gespenster treibt's um, einen musikalischen Scherenschleifer gibt's auch.

Auf geht´s!!!

Dafür, dass die Leut' ihre Bilettl kaufen, sorgt der Michael August. Der jüngste Schichtl-Spross versteht das Rekommandieren und Menscheneinfangen wie kein Zweiter. Keiner reißt härtere Sprüch', keinem geht die Goschn g'schmierter: "Hochgeschertes Publikum, Stadtleut‘ und Misthaufenprotzen, der rotbackerte Gschwöischädel da hinten und des g'schniegelte Gigerl daneb'n, rei mit eich!"

So a Freid!

Da geht den Hiesigen das Herz auf. Dieser zärtlichen, so tief aus bairischer Seele geschöpften Werbung widerstehen die Wenigsten. Einen Kraftspruch raushauen, dass die Wände wackeln, das ist eine hohe, an allen Stammtischen kundig kommentierte und akklamierte Kunst. Da brauchts Könner und Kenner. Und was der Schichtl an seraphischen Grobheiten herpfeffert - Reschpekt! Außerdem kann er heuer, am 29. September 1872, eine Wiesn-Neuheit avisier'n: Die Enthauptung einer lebenden Person auf offener, hell erleuchteter Bühne.

"Rei, sag i! Wer woaß, ob eich nächst's Jahr net der Teifi scho gholt hat oder d' Schwiegamuatta daschlagn." Gleich ist das Theater voll und eine Attraktion jagt die andere. Die Hauptsach' kommt zuletzt: Das Kopfabhacken. Alles ist bereit. Das Blutgerüst bleckt zahnluckert von der Bühne herunter. Ein Freiwilliger, von guten Freunden johlend in den Schneid getrieben, stapft nach oben. Die meisten tun forsch, obwohl ihnen das Gurgelzapferl hektisch hupft. Andere schau'n, als wär' ihnen das Mittagessen wieder im Magen lebendig geworden.

Hilft nix, es ist zu spät. Der Henker setzt dem Delinquenten eine schwarze Zipfelmütze auf, schiebt ihn, auf ein Kippbrett geschnallt, unters Schafott, und zack! Das Beil beißt zu, ein Schlag, ein Rumpeln im Auffangkorb, der Scharftrichter reckt ein blutendes Bündel hoch, lässt den Schrecken sickern und pappt, simsalabim, das abgetrennte Haupt wieder am Halsstumpf fest - Auferstehung, Verbeugung, Applaus!

Aber Kopfabhacken, wenn auch bloß zum Schein, das soll eine Gaudi sein? In Bayern schon. Und grad da! Weil die Grusel-Hetz in Wirklichkeit ein läuterndes Memento Mori und Carpe Diem ist: Eine Mahnung, dieses zerbrechliche, vergängliche Goaßleb'n bis aufs letzte Noagerl auszuzutzeln. Grad weil man weiß, wie schnell es sein kann, dass einen der Boandlkramer beim Schlawittl packt. Die Mischung aus Grausen, Derblecken, Lebenslust und dem Tod entwischen, rührt jedes verständige Gemüt. Drum wird auch heut' noch auf der Wiesn mit Leib und Seele geköpft.

Also: Auf geht's beim Schichtl. Geht´s eina, dann kennts aussi schaun!


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