20. Dezember 1812 Die Brüder Grimm veröffentlichen Kinder- und Hausmärchen
Für Kinder waren sie zunächst nicht gedacht, die Kinder- und Hausmärchen, die die Brüder Grimm herausgaben, sondern aus volkskundlichem Interesse gesammelt worden. Wilhelms sprachliche Anpassungen kreierten daraus den Buchmärchenstil, der bis heute unsre Vorstellung von einem Märchen bestimmt. Autorin: Brigitte Kohn
20. Dezember
Montag, 20. Dezember 2021
Autor(in): Brigitte Kohn
Sprecher(in): Christian Baumann
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Ein bekanntes Märchen der Brüder Grimm geht so: Schneeweißchen und Rosenrot leben mit ihrer Mutter im Wald, ganz im Einklang mit sich und der Natur, bis das männliche Prinzip dazwischenfunkt in Form eines verzauberten Bären und eines gehässigen Zwerges. Erst nachdem letzterer zur Strecke gebracht ist, kann sich der Bär in einen strahlenden Königssohn verwandeln und Schneeweißchen heiraten. Für die wildere und nicht ganz so blitzsaubere Rosenrot fällt immerhin der Bruder des Prinzen ab. Gute Mädchen sind‘s ja alle beide, jedes auf seine Art, und sie lieben sich auch sehr. "Wir wollen uns nicht verlassen. Solange wir leben nicht", das haben sie sich vorgenommen, und so geschieht es dann auch.
Sterbende Tradition
Wenn in den Grimmschen Märchen von Geschwistern die Rede ist, dann schwingt immer auch die Brüderbeziehung von Jacob und Wilhelm Grimm mit. Auch diese beiden waren recht verschieden, dennoch trennten sie sich nie und lebten und arbeiteten immer zusammen: zum Beispiel an den Kinder- und Hausmärchen, die sie zwischen 1812 und 1858 in mehreren Auflagen herausgaben und die in der Welt fast so bekannt und verbreitet sind wie die Lutherbibel.
Mit ihrer Märchensammlung wollten die Brüder die Früchte einer Tradition bewahren, die im Aussterben begriffen war: die mündliche Überlieferung des einfachen Volkes, ein von den gelehrten Aufklärern oft missachtetes, aber wirkungsmächtiges Erbe. Der Nimbus deutscher Ursprünglichkeit hält einer näheren Betrachtung allerdings nicht so ganz stand. Einfache Leute waren selten unter den Zuträgern der Brüder Grimm. Meist handelte es sich um junge belesene Frauen aus dem weitgestreuten Bekanntenkreis, die die Märchensammlungen anderer europäischer Länder gut kannten.
Der Gestiefelte Kater, Rotkäppchen und Dornröschen zum Beispiel haben keine deutschen Wurzeln, sondern französische.
Sittsame Tilgungen
Manchmal befragten die jungen Frauen auch ihre Knechte und Mägde, aber dann milderten sie das Derbe und Obszöne, bevor sie das Gehörte weitergaben. Vor allem Wilhelm Grimm arbeitete weiter intensiv an den Texten, entwickelte einen einzigartigen, aber nicht sehr ursprünglichen Märchenton und wachsende Distanz zu erotischen Inhalten. In der Erstausgabe der Märchen, die am 20. Dezember 1812 erschienen ist, wird Rapunzel im Turm vom Prinzen schwanger und bekommt Zwillinge. Die aber werden in späteren Ausgaben sittsam getilgt.
Jacob Grimm hätte oft lieber die Rohfassung bewahrt und fand so manchen Eingriff überflüssig. Die Meinungen gingen im Einzelnen auseinander, im Grundsätzlichen aber nie: Beide waren der Ansicht, dass ein Märchen nicht zu belehrend und sanftmütig daherkommen darf. Es muss auch von Abgründen und Gewalt erzählen. Es muss die Seele aufwühlen, um bei der Lebensbewältigung helfen zu können in einer Welt, die voller Rätsel, Wunder, Gefahren und Tragödien ist, in der es oft ungerecht zugeht und in der es sich doch lohnen kann, treu zu sein und ein gutes Herz zu haben. Das Konzept hat funktioniert: Die Märchen der Brüder Grimm haben Generationen von Kindern tief geprägt und alle politisch korrekten Kritiker überlebt, und das wird hoffentlich so bleiben.