1. Februar 1827 Erste Stadtpläne von London zu haben
London war schon Anfang des 19. Jahrhunderts eine Millionenstadt. Nicht nur Reisende, sondern sogar die Einwohner bekamen langsam Schwierigkeiten mit der Orientierung im Großstadtdschungel - bis George Frederick Cruchley Abhilfe schuf und seine Stadtpläne zum Navigationsinstrument für ein breites Publikum machte. Autorin: Julia Devlin
01. Februar
Mittwoch, 01. Februar 2023
Autor(in): Julia Devlin
Sprecher(in): Irina Wanka
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
London wuchs und wuchs. Schon 1801 war es eine Millionenstadt. Ein Vierteljahrhundert später waren noch einmal eine halbe Million Einwohner dazu gekommen, Tendenz steigend, und die Stadt dehnte sich in alle Richtungen. Spinnwebartig breiteten sich neue Straßenzüge, gar ganze Stadtviertel nach Osten und Westen, Norden und Süden aus, überwucherten die hügelige Heidelandschaft, die Äcker und Weiden, die Flussauen und Streuobstwiesen und schluckten gar manche der kleinen Dörfchen und Weiler, welche die Städter bei ihren sommerlichen Ausflügen ins ländliche Idyll gerne angesteuert hatten.
Das Labyrinth von London
Arm und reich, Glamour und Elend lagen in dieser Metropole eng beieinander, man bog um die Ecke und war in einer anderen Welt, und wo gestern noch die Kühe weideten, stand heute schon eine Fabrik. Wer sollte sich in dieser Stadt rasanten Wandels noch auskennen? Wie sich zurechtfinden, wenn ganze Flüsse plötzlich verschwanden, in unterirdische Röhren gezwungen, wenn alte Grenzen sich auflösten, aber neue dafür entstanden, wenn das Labyrinth sich weiter wand und wand?
Auftritt George Frederick Cruchley. Er hatte eine Lehre als Graveur und Kartograph gemacht und besaß in London einen Buchhandel, in dem er auch Karten verkaufte. Einen Stadtplan für London gab es noch nicht, und so entwarf er einen, detailreich, faltbar und up to date, und begann am 1. Februar 1827 mit dem Verkauf.
Weil sich London, wie bereits erwähnt, ständig veränderte und weiter wuchs und wuchs, blieb es nicht bei diesem ersten Stadtplan. Jedes Jahr gab Cruchley eine überarbeitete Version heraus, mit Erweiterungen, die auch die Docks umfassten, fügte ein Straßenregister hinzu und Hinweise auf wichtige Gebäude und Parks, und er perfektionierte die Möglichkeiten des handlichen Zusammenfaltens, zerschnitt beispielsweise die Karte in exakte Quadrate und zog sie auf Leinen.
Biographie einer Stadt
Cruchleys Karten sind eine wunderbare Biographie der Stadt London, eine präzise Dokumentation der Veränderungen. So zeigt die Ausgabe von 1831 zwei parallele Brücken über die Themse: London Bridge und New London Bridge, also die noch aus dem Mittelalter stammende, ständig überlastete, unfallträchtige alte Brücke und ihre moderne Nachfolgerin. Die neue wurde 1831 eröffnet, die alte danach abgerissen. Der Stadtplan von 1832 zeigt dann nur noch eine Brücke. Wenig später kamen die ersten Eisenbahnen, Gleise zogen sich durch die Stadt, große Bahnhöfe wurden gebaut, und Fabriken, Einkaufsmeilen, Schulen, Gefängnisse, Friedhöfe, und hier noch ein Wohnviertel, und da noch eine Ladenzeile, und hier noch eine Kirche, und da noch ein Pub. Ein Wandel, dass einem geradezu schwindlig wurde. Gut, wenn man da einen kleinen, faltbaren Stadtplan bei sich hatte. In dieser Zeit rasanten Umbruchs konnten solche Karten vielleicht nicht unbedingt Antwort geben auf die drängende Frage: Wer bin ich? Aber doch zumindest auf die Frage: Wo bin ich?