22. Dezember 1937 Das "Große Storchenderby" ist rechtens
Ohne Erben hinterlassen zu haben starb der steinreiche Anwalt Charles Vance Millar. Doch es fand sich im Nachlass ein folgenschweres Testament: Die Frau, die innerhalb von 10 Jahren in Toronto die meisten Kinder auf die Welt bringen würde, sollte Millars Vermögen erben. Das große Storchenderby begann. Autorin: Isabella Arcucci
22. Dezember
Donnerstag, 22. Dezember 2022
Autor(in): Isabella Arcucci
Sprecher(in): Christian Baumann
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
An Halloween des Jahres 1926 fiel der steinreiche Anwalt Charles Vance Millar tot um. Vom Schlag gerührt, auf den Stufen seiner Kanzlei, mitten in Toronto. Millar war Zeit seines Lebens Junggeselle und Exzentriker gewesen und wer weiß, ob seine, in die kalte Herbstluft entfleuchende Seele nicht leise kicherte ... Denn Millars Testament hatte es in sich.
Das große Wettgebären von Toronto
Ein Ferienhaus auf Jamaica vermachte er drei Anwaltskollegen, die sich nicht ausstehen konnten. Seine Aktien an einer katholischen Brauerei übertrug er einigen protestantischen Abstinenzlern.
Und 500.000 kanadische Dollar, nach heutigem Kaufwert ca. sechs Millionen Euro, sollten an jene Frau gehen, die innerhalb von 10 Jahren nach Millars Tod, in Toronto die meisten Kinder zur Welt brächte. Die Presse jubelte! "The Great Stork Derby", das "Große Storchenderby" hatte begonnen. Die Zeitungen waren bald voll mit voyeuristischen Homestorys über ärmliche Familien, die auf engstem Raum in Eintopfdunst und Schmutzwäschebergen vom großen Geld des Charles Vance Millar träumten und sich unverdrossen an die Nachwuchsproduktion machten. Es waren die späten 20er, der Beginn der Weltwirtschaftskrise. Auch der Ehemann der streng katholischen mehrfach-Mutter Lillian Kenny war seit langem arbeitslos. Lillian war überzeugt: Millars Geist hatte sie zur Preisträgerin auserwählt. Sie verewigte sein Konterfei in Holzschnitzereien - und verteilte Fausthiebe an freche Reporter. Auch wenn sie dabei versehentlich den eigenen Ehemann traf. "Two-Punch-Kenny" wurde Lillian deshalb in der Presse genannt. Ganz anders ihre Konkurrentin Grace Bagnato, die strebsame Tochter italienischer Einwanderer, die trotz ihrer riesigen Kinderschar als Dolmetscherin bei Gericht arbeitete.
Mit dem Taxi zu den Niagara-Fällen
Politiker versuchten, Millars Testament anzufechten. Nicht nur, weil die Frauen mit diesem Gebärmarathon ihre Gesundheit gefährdeten und scharenweise Kinder in die Welt setzten, die kaum Zukunftschancen hatten. Nein, die wahre Furcht galt dem sogenannten "Race suicide", dem "Rassenselbstmord". Denn die Geburtenrate bei der protestantischen Mittel- und Oberschicht war seit Jahren am Sinken. Und jetzt sollten die ohnehin schon kinderreichen Migranten und Sozialhilfeempfänger auch noch zur Fortpflanzung animiert werden? Unerhört!
Doch der Oberste Gerichtshof von Kanada bestätigte am 22. Dezember 1937 die Gültigkeit von Millars Testaments.
Lillian nützte das nichts. Sie hatte einige Totgeburten erlitten und eines ihrer insgesamt 14 Kinder starb als Baby an einem Rattenbiss. Aber das Gericht befand zynisch, dass nur lebende Kinder im Wettkampf zählten. Two-Punch-Kenny wehrte sich und erhielt zumindest eine kleine Abfindung. Die italienischstämmige Grace Bagnato ging ganz leer aus.
Das Preisgeld wurde schließlich unter vier Müttern aufgeteilt, die überwiegend zur weißen protestantischen Mittelschicht gehörten und das neue Vermögen sorgsam zum Wohle der Familie anlegten.
Lillian Kenny kaufte sich von ihrer Abfindung erst einmal einen sündhaft teuren Robbenmantel, mietete sich ein Taxi und fuhr zu den Niagarafällen. Allein. Ohne Kinder. DAS sollte jede Mutter einmal machen!