29. August 1893 Miss Foys Schlangentanz macht München schleierdamisch
Ein riesengroße Schleierkostüm aus leichtem Seidenstoff hüllt die Tänzerin in immer neuen Wellen- und Spiralformen, die um ihren Körper schwingen. Dazu farbige Lichteffekten und Fotografien, die auf das Schleierkostüm projiziert werden. Ende des 19. Jahrhundert war das Publikum verrückt danach - auch in München. Autor: Simon Demmelhuber
29. August
Dienstag, 29. August 2023
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Redaktion: Frank Halbach
Die Bühne ist finster. Dann setzt Musik ein. Scheinwerfer strecken ihre Finger aus. Etwas erwacht im Strahlenkegel. Beginnt sich zu drehen, flattert, zuckt, wippt. Ist Welle, Wirbel, Spirale, ist Blütenkelch, Vogel, Schmetterling und Schlange.
Getanzte Metamorphose
Loïe Fuller tanzt! Tanzt wie niemand zuvor! Tanzt den Fortschrittsrausch der Belle Époque, tanzt die Leuchtspur der Moderne, tanzt die elektrische Zeit. 1882 zeigt sie ihren dance serpentine erstmals in den Folies-Bergères. Sie trägt wehende Schleierkostüme, näht Stäbe in die weiten Ärmel ein, spreizt und spannt mit diesen Hebeln die wallende Seide aus. Jeder Schritt, jede Drehung, jede Armstellung modelliert flüchtige Skulpturen, starke Lampen tauchen die huschenden Gebilde in gleißende Helle, bunte Gläser, Prismen und Projektoren legen Farben, Ornamente, Fotos über die getanzte Metamorphose.
Ein Jahr später ist Loïe la fée électrique des Jugendstils, die gefeierte Prima Ballerina des fin de siècle. Zahllose Nachahmerinnen kopieren La Loïe, kupfern ihre Licht- und Bühneneffekte, ihre Kostüme, ihren Tanzstil ab. Und alle europäischen Varietés raufen sich um die Fuller-Klone. Ein Programm ohne dance serpentine? Todlangweilig! So was von gestern! Voll die Provinz! Wer 1893 keinen Serpentinentanz bietet, sperrt besser gleich zu!
Die heißeste Nummer der Saison
Das gilt auch in München. Hier kämpfen im Herbst 1893 gleich mehrere Vergnügungstempel, Riesenkästen mit tausend Plätzen und drüber, um die Publikumsgunst.
Aber boxende Kängurus, Schlangenmenschen, Bauchredner, Kunstradler oder Instrumentalvirtuosen will keiner mehr sehen. Das verrückte Ding aus Paris oder gar nichts! Darum haben die drei größten Varietés ausnahmslos Göttinnen des neuen Tanzstils engagiert und versprechen in grellen Werbeschlachten die heißeste Nummer der Saison. Aber eigentlich ist das Rennen gelaufen. Weder der Bamberger Hof, noch die Blumensäle haben auch nur den Hauch einer Chance. Kil´s Colosseum sticht sie alle aus. Denn hier, und nur hier, gibt sich im Juli und August Miss Leona Foy die Ehre!
Wenn überhaupt jemand Loïe Fuller das Wasser reichen kann, dann Miss Foy! Ob sie nun als Maienblüte, als Schmetterling, Schlange oder Lilie im Serpentinentanz sich wiegt, stets bietet sie ein derart "zauberisches Bild feenhafter Grazie", dass den Kritikern die Superlative einrasten: "Wer die sensationelle, einzigartige, unvergleichliche Miss Foy nicht gesehen hat, hat sein Leben vertan!"
Das zieht! Das Colosseum ist jeden Abend rappelvoll, so auch am 29. August 1893. Wie immer schwimmt der Saal in Licht und Wärme, wie immer schwirren Stimmen und klirren Gläser, wie immer erntet die Künstlerin tosenden Applaus. Ui schau, wia de si draht! Den größten Effekt aber macht ein brandneues Lichtspektakel, bei dem die Tänzerin auf offener Bühne ganz in Flammen gehüllt den Feuertod stirbt.
Zehn Jahre noch gastiert Leona Foy jeden Herbst etliche Wochen in München. Dann läuft sich der Serpentinenhype tot. Im Publikum sitzt jetzt eine strammere, zackige, weniger leichtfüßige Generation, die das mit Feuertanz und Flammenopfer bald selbst erledigt.