23. November 1973 Nach einem halben Jahr beenden die Fluglotsen in Deutschland ihren Streik
Als die Fluglotsen noch Beamte waren, war man sicher: Die streiken nicht, dürfen sie gar nicht. Doch bessere Arbeitsbedingungen kann man sich auch mit Dienst nach Vorschrift erstreiten. Autor: Christian Jungwirth
23. November
Montag, 23. November 2020
Autor(in): Christian Jungwirth
Sprecher(in): Krista Posch
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Folgende Vorstellung: wir buchen einen normalen Inlandsflug von Hannover nach Frankfurt, checken am Airport ein, das Personal bringt uns zur Gangway – und dort wartet lediglich ein Reisebus, mit dem wir über die Autobahn an den Main kutschiert werden! Schön blöd, gell?
Dienst nach Vorschrift
Aber exakt so ist es oft passiert, Mitte 1973, beim größten Bummelstreik deutscher Fluglotsen in der Geschichte. Gut ein halbes Jahr haben diese ganz speziellen Beamten – dazu wurden sie erst Anfang der 1960-er Jahre gemacht – die Nation in der Hand und auf dem Radarschirm. Und weil Beamte, das ist bekanntlich der Deal, nicht streiken dürfen, greifen sie zu folgenden Methoden: Dienst nach Vorschrift etwa, im Englischen lieblich als "go slow" bebildert. Oder mit Hilfe von "sick out", dem organisierten Krankmelden ganzer Schichten. Erklärtes Ziel aller "Air Traffic Controller": Schau her, liebe Nation, ohne uns geht keiner in die Luft! Mit Erfolg: von Hannover aus etwa steigt im Sommer 1973 tagelang kein Flieger in den Äther. Aber was steckt hinter diesem monatelangen Ausstand? Die Lotsen wollen mehr Geld, mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen. Wohlbekannte Forderungen seinerzeit. Wilde Streiks der Metaller, auch die Drucker treten in den aktiven Protest, die Gewerkschaft ÖTV, jetzt Teil von ver.di, fordert gar ein exorbitantes Lohntütenplus von 15 Prozent. In diese explosive Stimmung platzen – ausgerechnet am Himmelfahrtstag 1973 – westdeutsche Fluglotsen. Nicht nur die Wirtschaft steht so wochenlang Kopf. Während der Sommerferien bricht schier komplett das Chaos auf den Flughäfen aus. Unterm Strich fallen während des Streiks rund 40.000 Flüge aus, weitere 80.000 verspäten sich. Schon die ersten fünf Wochen, lässt Kanzler Willy Brandt ausrechnen, zeitigen 100 Millionen Mark Schaden.
Diktatur der Spezialisten
Doch je mehr der Druck von außen wächst, umso besser halten die Lotsen zusammen. Dienst nach Vorschrift kann lahmlegen, demonstrieren sie mit erstaunlicher Einigkeit. Und auch das Recht auf Krankschreibung wird rege bedient. Der SPIEGEL titelt im Juli 1973: "Lotsenstreik – Diktatur der Spezialisten?" Die Politik reagiert barsch. Staatsanwaltschaften prüfen, ob bummelnde Beamte wegen Nötigung eines Verfassungsorgans angeklagt werden können. Ermittlungsverfahren folgen, Hausdurchsuchungen – doch die Experten halten tapfer im Tower durch. Irgendwann wird der Druck durch Politik, Wirtschaft und Passagiere dann doch zu groß. Am 23. November 1973 endet der bis dato größte Bummelstreik mit einem faulen Kompromiss. Nach Klagen auf Schadenersatz brechen die Lotsen den Dienst nach Vorschrift ab. Man vergleicht sich, Strafverfahren werden eingestellt, die Abtrünnigen bleiben vorerst Beamte. Nur langsam wird Richtung Advent alles wieder verlässlicher auf Deutschlands Airports. Heute sind die Fluglotsen längst keine vereidigten Staatsdiener mehr. Und sollten dunkle Wolken überm Lotsenturm aufziehen, ist die GdF, die Gewerkschaft der Flugsicherung, für ihre Schäfchen da. Sie wirbt, sinnigerweise, nach allen Seiten mit dem Spruch: "Wir lassen Euch nicht in der Luft hängen". Na dann…