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Das Thema Schellings Naturphilosophie

Stand: 06.06.2013 | Archiv

Die Lektüre romantischer Texte, vor allem aber die Lektüre der beiden von Novalis hinterlassenen Romanfragmente "Die Lehrlinge zu Sais" und "Heinrich von Ofterdingen" stellt den Leser vor immense Herausforderungen. Auf eingängige Gefühligkeit oder süffige Schwärmerei lässt sich die Romantik jedenfalls nicht reduzieren. Sie ist sperrig, befremdlich, hoch reflektiert und in ihrer Struktur, Bildlichkeit, Thematik und Intentionalität so unmittelbar mit den philosophischen Strömungen ihrer Entstehungszeit verbunden, dass sie ohne Grundkenntnisse dieses Bezugsrahmens unverständlich bleibt.

Die Kopfgeburt der Romantik

Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), anonymer Stahlstich

Das geistige Rüstzeug der Frühromantik (1790-1801) stellt neben Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Schlegel vor allem der Philosoph Friedrich Wilhelm Schelling bereit. 1797 entwirft er mit seiner Einleitung zu: Ideen zu einer Philosophie der Natur ein Fundament des romantischen Denkens, das hinsichtlich seiner Tragweite und Bedeutung gewiss nicht überschätzt werden kann.

Friedrich Schlegel (1772-1829). Gemälde von Franz Gareis (1801)

Was Schelling so überaus wirksam macht, ist der Versuch einer Antwort auf das Verhältnis von Natur und Geist. Seine Hauptfragen lauten: Was ist dieses Ich, das der denkende Mensch in sich wahrnimmt? Ist es etwas außerhalb der Natur, etwas grundsätzlich von der Welt Geschiedenes? Wie hat sich der menschliche Geist entwickelt? In welcher Verbindung steht er zur materiellen Wirklichkeit, die ihn umgibt?

Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775-1854). Ölgemälde von Christian Friedrich Tieck (um 1800)

Schelling findet die Lösung seiner Probleme im Postulat eines ursprünglich absoluten Geistes, der sich in Natur und Geschichte vergegenständlicht und damit entzweit hat. Trotz dieser Spaltung bilden Natur und Geist aufgrund ihres gemeinsamen Ursprungs im Absoluten eine Einheit, in der alles mit allem verbunden ist. "Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn. Hier also, in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine Natur außer uns möglich seye, auflösen". Als Metapher für dieses Prinzip eines unauflöslichen Zusammenhangs von Mensch und Universum, Makro- und Mikrokosmos, das "die ganze Natur zu einem allgemeinen Organismus verknüpft", gebraucht Schelling den Begriff der "Weltseele".

Für den Romantikspezialisten Detlev Kremer umfasst der romantische Naturbegriff Schellings alle "gegenständlichen Erscheinungen der Natur (natura naturata) und die schöpferische Energie derselben (natura naturans). Er bezeichnet das Archiv der gesamten Schöpfung wie den Umfang der Naturgeschichte und ist überdies komplementär mit dem kulturellen Prozess der Geschichte verzahnt". Verkürzt lässt sich dialektische Komplementarität anhand der Entwicklung eines Natur- und eines Geistesprozesses darstellen.

Naturprozess

  • "Die Natur ist […] nicht nur die Erscheinung oder Offenbarung des Ewigen, vielmehr zugleich dieses Ewige selbst". Sie ist "unbewusst" gebärender, schöpferischer Geist (natura naturans), alle Tätigkeiten der Natur sind unbewusste Geistestätigkeiten dieses universalen, lebendigen absoluten Geistes.
  • Jedes einzelne Naturprodukt (natura naturata)wird durch das fortwährend tätige rhythmische Spiel entgegen gesetzter Geisteskräfte erzeugt.
  • Als ursprünglichste Kräfte der Natur wirken das unendliche Expansions- und das unausgesetzt wirksame Kontraktionsstreben. Aus der gegenseitigen Spannung dieser Kräfte entsteht die Materie als erstes Produkt des Naturprinzips.
  • Alle höheren Naturprodukte wie der unorganische Naturprozess, das organische Naturleben und das Bewusstsein gehen als Verdichtungen (Potenzierungen) der Materie und damit des absoluten Geistes hervor.
  • Im Naturprozess erhebt sich das Absolute von Stufe zu Stufe bis zum Menschen als vollkommenstem Naturprodukt. Dieser Naturprozess ist die Naturgeschichte.

Der Geistesprozess ist analog strukturiert. Auch er entsteht durch das rhythmische Spiel antagonistischer Geisteskräfte. Dabei stehen eine "schrankenlos setzende, stoffgebende" und eine "unausgesetzt beschränkende, formgebende" Kraft in andauernder Wechselwirkung.

Geistesprozess

  • Das erste Geistesprodukt ist die Anschauung. Sie entspringt aus der gegenseitigen Spannung der Bewusstseinstätigkeiten des bloßen Schauens und des Empfindens.
  • Aus der Anschauung gehen durch fortgesetzte Geistestätigkeit alle höheren Produkte des Bewusstseins als verdichtende Steigerungen (Potenzierungen) des Anschauens hervor. Diese höheren Produkte des Bewusstseinslebens sind der Begriff, das Urteil, der (logische) Schluss.
  • Den Abschluss dieser fortgesetzten (potenzierten) Geistestätigkeiten bildet das auf der höchsten Naturstufe erscheinende menschliche Bewusstsein. In diesem Prozess der Bewusstwerdung erwacht der bislang bewusstlos tätige Naturgeist im Menschen und macht sich selbst zum Objekt seines Anschauens.
  • Wenn sich das Absolute im Menschen selbst erschaut, beginnt - analog zum Naturprozess - ein neuer Geistesprozess. In diesem Geistesprozess erhebt sich das im Menschen verkörperte, also selbst zu einem Teil der Natur und damit endlich gewordene Absolute zum Bewusstsein seiner selbst. Es erkennt sich schließlich als absolut in seiner eignen Unendlichkeit und Freiheit. Dieser Geistesprozess ist die Weltgeschichte.

Analog zum Naturprozess, der über die unorganische und organische bis zur menschlichen Stufe aufsteigt, zeigt auch der Geistesprozess unterschiedliche Entwicklungsphasen.

Entwicklungsphasen

  • Anfangs wird das Absolute gegenständlich (objektiv) als sichtbare Natur angeschaut. Dieser Bewusstseinsstufe entsprechen die als real sichtbar gedachten Götter des Heidentums.
  • In der zweiten Phase wird das Absolute persönlich (subjektiv) als unsichtbarer Geist gefühlt. Dieser Stufe entspricht der unsichtbare Gott des Christentums.
  • In der dritten Phase wird das Absolute als identisch mit dem Erkennenden (Objekt-Subjekt-Identität) erkannt. Diesen drei Phasen der Offenbarung des Absoluten entsprechen Kunst, Religion und Philosophie. Sie entsprechen zugleich den drei Hauptperioden der Weltgeschichte: dem Altertum, dem Mittelalter und der Neuzeit.

Die Kunst als universaler Fusionsreaktor

Prägend für die Romantik ist die in diesem Überlegungsgang gewonnene Einsicht, dass Natur und Geist zwar identisch sind, aber aufgrund der Entzweiung in einen Natur- und einen Geistesprozess in einem fortwährenden Spannungsverhältnis stehen.

Dieses Spannungsverhältnis kann allein die Kunst auflösen. Sie hebt die geschichtlich gewordene Trennung auf und stellt die verlorene Einheit wieder her. Sie tilgt die Spannungen und Dissonanzen, sie ist das Organ der Versöhnung, sie leistet in ihrer nichtbegrifflichen Weise das, wozu die Philosophie in ihrer die Subjekt-Objekt-Trennung voraussetzenden Tätigkeit nicht in der Lage ist und kann so, weil nicht reflexiv, den "ganzen" Menschen ansprechen. (Kremer)

Aufgrund dieser Versöhnungsleistung begreift Schelling die Kunst als "das Allerheiligste..., wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln ebenso wie im Denken ewig sich fliehen muß".

Damit ist der Künstler zugleich jener Mensch, der sowohl methodisch wie auch intuitiv, der bewusst und unbewusst die Geheimnisse der Natur zum Erscheinen bringt. Dafür bedarf es allerdings einer eigenen, poetischen Sprache. Denn "die Geheimnisse der Natur lassen sich nicht in einer wissenschaftlichen Begriffssprache ausdrücken, sondern die "Chiffrenschrift" der Natur offenbart sich exklusiv in der bildlichen uneigentlichen Sprache der Kunst, die das Geheimnis nicht löst, sondern metaphorisch umschreibt und ahnen lässt." (Kremer)

Novalis drückt diese von Schelling übernommene Vorstellung eines organischen Zusammenhangs von Natur und Geist in seinem Werk immer wieder aus. Aufgrund der Verbundenheit mit dem Absoluten und der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Natur und Geist stellt der romantische Dichter mithilfe des "Zauberstabs der Analogie" Beziehungen und Ähnlichkeiten her, die alle erdenklichen Sphären aufeinander abbilden. In seinem "Allgemeinen Broillion" einer Sammlung von Notaten, weitet er die Vorstellung eines universellen Zusammenhangs schließlich „zu einer weltumspannenden Enzyklopädistik aus, in der alles mit allem in Beziehung gesetzt wird". (Kemer)

Auch in den "Lehrlingen zu Sais" ist diese ästhetische, das heißt, durch die Kunst produzierte Naturphilosophie fragmentarisch gestaltet: "Da er in den Lehrlingen verschiedene Verhältnisse der Menschen zur Natur und zu sich selbst thematisiert, zieht er einen Schnitt zwischen den naturwissenschaftlichen "Scheidekünstlern", unter deren "scharfen Messerschnitten" nur "todte, zuckende Reste" der Natur zurückbleiben, und den Künstlern, den "Lieblingen der Natur", die die Naturdinge beseelen und in ihrem lebendigen Zusammenhang erkennen." (Kremer)


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