Das Thema Die Wiedergeburt Europas
Dass der Rückbezug auf das Mittelalter als Modell einer neu zu schaffenden "Goldenen Zeit" dient und unmittelbar auf die revolutionäre Gärung der Epoche, insbesondere auf den verstörenden Verlauf der Französischen Revolution antwortet, wird nirgends deutlicher als in der 1799 von Novalis verfassten Rede "Die Christenheit oder Europa".
Wiedergeburt aus dem Geist der Religion
Nach einem Lobpreis des universalen, alle Lebensbereiche und Nationen vereinenden mittelalterlichen Katholizismus rechnet Novalis zunächst mit dem Protestantismus ab. Er wirft ihm vor, die Menschen, die Nation und den Glauben gespalten zu haben. Dadurch kam es zu einer "Vertrocknung des heiligen Sinns", das Weltliche hat die Oberhand gewonnen. Schließlich haben die atomistische Wissenschaft, der Empirismus und der Rationalismus die Welt entzaubert, den Sinn des Unsichtbaren zerstört und nur noch zuckende, tote Reste übrig gelassen. "Der Religions-Haß, dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Noth oben an, und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey."
Vor allem in Frankreich entwickelte sich die Aufklärung zu einem neuen Glauben, "der aus lauter Wissen zusammen geklebt war." Ihre Apologeten "waren rastlos beschäftigt, die Natur, den Erdboden, die menschlichen Seelen und die Wissenschaften von der Poesie zu säubern, - jede Spur des Heiligen zu vertilgen, das Andenken an alle erhebende Vorfälle und Menschen durch Sarkasmen zu verleiden, und die Welt alles bunten Schmucks zu entkleiden. Das Licht war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden. Sie freuten sich, daß es sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft, Aufklärung. In Deutschland betrieb man dieses Geschäft gründlicher, man reformierte das Erziehungswesen, man suchte der alten Religion einen neuern vernünftigen, gemeinern Sinn zu geben, indem man alles Wunderbare und Geheimnißvolle sorgfältig von ihr abwusch […]. Gott wurde zum müßigen Zuschauer des großen rührenden Schauspiels, das die Gelehrten aufführten, gemacht, welcher am Ende die Dichter und Spieler feierlich bewirthen und bewundern sollte."
Worauf diese Entwicklung notgedrungen zulaufen musste, enthüllt die Französische Revolution: "Alte und neue Welt sind in Kampf begriffen, die Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit der bisherigen Staatseinrichtungen sind in furchtbaren Phänomenen offenbar geworden." Dieser Kampf droht nun nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa in einem revolutionären, kriegerischen Strudel zu verschlingen. "Es ist unmöglich daß weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht setzen, ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen. Unter den streitenden Mächten kann kein Friede geschlossen werden, aller Friede ist nur Illusion, nur Waffenstillstand; auf dem Standpunkt der Kabinetter, des gemeinen Bewußtseyns ist keine Vereinigung denkbar."
Nur ein neues, geläutertes Christentum kann Europa befrieden und zur Auferstehung führen, nur ein neuer Katholizismus kann das revolutionäre Blutvergießen beenden, die Trennungen aufheben und eine neue Einheit schaffen. "Es wird so lange Blut über Europa strömen bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt und von heiliger Musik getroffen und besänftigt zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Werke des Friedens vornehmen, und ein großes Liebesmahl, als Friedensfest, auf den rauchenden Wahlstätten mit heißen Thränen gefeiert wird. Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installiren."
Dieses neue Christentum wird den Protestantismus auflösen und die Nationen vereinen, um einer neuen, dauerhafteren Kirche Platz zu machen: „Die andern Welttheile warten auf Europas Versöhnung und Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger des Himmelreichs zu werden. […] Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam werden, und sich wieder ein[e] sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgränzen bilden, die alle nach dem Ueberirdischen durstige Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der alten und neuen Welt wird. […] Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt seyn wird; und bis dahin seyd heiter und muthig in den Gefahren der Zeit, Genossen meines Glaubens, verkündigt mit Wort und That das göttliche Evangelium, und bleibt dem wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den Tod.
Als Novalis diese Rede im November 1799 bei einem Treffen des romantischen Kreises in Jena vorträgt, sind die Reaktionen äußerst zwiespältig. Es kommt zu heftigen Diskussionen. Schlegel hält sich bedeckt, Schelling äußert offenen Spott. Das Werk wird zunächst aufgrund "gedanklicher Schwächen", historischer Ungenauigkeiten und willkürlicher Schlussfolgerungen nicht zur Veröffentlichungen im Athenaeum angenommen. Schließlich überlässt man Goethe die Entscheidung, der von einer Publikation abrät.