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Eine Kulturgeschichte der weiblichen Keuschheit Hintergrund

Stand: 22.07.2019 | Archiv

Göttinnen ohne Götter

Am Anfang der Suche nach dem "Mythos Jungfrau" steht die große Schöpfergöttin. Sie hat viele Namen und Gestalten, sie heißt Nüwa, Neith oder anders. Aber immer gebiert sie den Kosmos aus sich selbst heraus, ohne Mann, ohne Penetration, ohne Samenspende. Sie ist die starke, ewige Jungfrau; eine, die sich keinem Herrn unterwirft, die von keinem Mann beherrscht und eingeschränkt wird. In den griechischen Göttinnen Athene, Hera, Hesta und Artemis haben sich mythologische Erinnerungen an dieses Urbild freier, mächtiger, unabhängiger Weiblichkeit erhalten.

Selbstbestimmt, eigenständig, frei

Dieses frühe Konzept von Jungfräulichkeit hat nichts mit Prüderie oder Leibfeindlichkeit zu tun. Es geht nicht um die Frage körperlicher Unversehrtheit oder des Verzichts auf Liebes- und Leibesfreuden. Es geht um mehr: um weibliche Selbstbestimmung, um weibliche Kraft. Und vor allem geht es um die Herrschaft über das eigene Leben und den eigenen Körper. Daher ist es nicht widersinnig, wenn sich die jungfräulichen Göttinnen gelegentlich vermählen oder auch Kinder gebären. Ihr innerstes Wesen, ihre kreatürliche und kreative Freiheit bleibt davon unberührt.

Die Mutter kennt man, den Vater nicht

Viele Frauen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit folgen ihnen auf diesem Weg. Für sie - natürlich sind es durchwegs Angehörige des Adels - ist die selbstgewählte Jungfräulichkeit eine der wenigen Möglichkeiten, sich der gesellschaftlichen Verfügung über ihren Körper, männlicher Vormundschaft oder dem Ehe- und Gebärzwang zu entziehen. Mit dem Verzicht auf Nachkommen hat sich auch eine der wichtigsten Funktionen vorehelicher Keuschheit von selbst erledigt. Dass die Braut unberührt in die Ehe geht, war in der Antike keine vorrangig moralische, sondern eine eminent pragmatische Angelegenheit. In einer Zeit ohne Vaterschaftstest ist die Unberührtheit der Braut die einzige Chance, die Rechtmäßigkeit der Nachkommen und Erben sicherzustellen.

Karriere statt Kinder und Küche

Im Lauf der Spätantike rückt das Christentum einen Aspekt in den Vordergrund, der schon von jeher ein Bestandteil asketischer Keuschheitsmaximen ist. Der Verzicht auf Ehe und Sexualität gilt als Vorwegnahme einer paradiesischen Existenz auf Erden. Wer seinen Leib überwindet, seine Triebe beherrscht und Versuchungen meistert, nähert sich dem Vorbild der Engel an und genießt so bereits zu Lebzeiten einen Vorgeschmack auf die unvergänglichen Freuden des Himmels. Die Nonnen des Mittelalters verschmelzen beide Elemente zu einer ganz eigenen Lebensform. Als Bräute Christi erwerben sie sich einerseits ein Anrecht auf die immerwährende Seligkeit. Andererseits nützen sie eine Chance, die anderen Frauen verwehrt bleibt: Sie können Wissen und Bildung erwerben, ein Handwerk ausüben und sie entgehen sowohl dem Ehezwang wie auch den Gefahren des Kindbetts. Im Kloster sind Frauen, die sonst unweigerlich der rechtlichen Vormundschaft des Vaters, des Ehemannes oder männlicher Verwandter unterstehen, zumindest relativ frei. Das macht die Jungfräulichkeit für viele Frauen zum attraktiven Lebensmodell.

Maria schafft den Körper ab

Dann ist da noch die Sache mit Maria. Spätestens im Hochmittelalter wird die jungfräuliche Gottesmutter zum allgegenwärtigen weiblichen Rollenmodell idealisiert. So wie sie müssen fortan alle Frauen sein: Süß, mild, schamhaft, rein und Jungfrau nicht nur bis zur Heirat. Die jungfräuliche Keuschheit Marias wird zum Modell für den Sex in der Ehe: Die Frau erfüllt ihre Pflicht, sie ist gebärbereit, gehorsam, geduldig. Von Lust und Leidenschaft ist nicht die Rede. Das bleibt den Gefallenen und Sünderinnen überlassen. Die Spaltung ist manifest: Eine Frau ist entweder Hure und Schlampe oder Jungfrau und Mutter. Dazwischen gibt es nichts. So wird die weibliche Sexualität im Namen des himmlischen Vorbilds und einer idealisierten Jungfräulichkeit jahrhundertelang neutralisiert, normiert und auf Bedürfnisse der patriarchalischen Gesellschaft zugeschnitten.

Befreiungs-, Rück- und Tiefschläge

Dieses Rollenmodell bestimmt jahrhundertelang die Bewegungsfreiheit der Frau und kommt erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ernsthaft ins Wanken. Die sexuelle Revolution, die Pille und die Emanzipationsbewegung machen ihm schließlich den Garaus. Jungfräulichkeit, wenn sie überhaupt noch wahrgenommen wird, ist mit dem ersten Geschlechtsverkehr erledigt.

Muss wahre Liebe wirklich warten?

Jedenfalls fürs Erste. Im Nachgang des Ringens um sexuelle Selbstständigkeit und Gleichberechtigung schwingt das Pendel unversehens zurück. Im christlich-konservativen und evangelikal-fundamentalistischen Milieu der USA entstehen mit "True Love Waits" (Wahre Liebe Wartet) oder "Purity Ring" (Reinheitsring) in den 1990er-Jahren rigide Keuschheitsbewegungen. Sie geben sich moderat, aufgeklärt und pragmatisch. Prüderie oder generelle Sexfeindlichkeit spielen vordergründig keine Rolle. Die Argumentation läuft anders, wesentlich gewiefter: Der freiwillige Verzicht auf Sex vor der Ehe ist gar kein Verzicht, sondern ein echter Gewinn, ein Allheilmittel gegen ungewollte Schwangerschaft, sexuell übertragbare Erkrankungen, emotionale Verletzungen und die sexuelle Überforderung junger Frauen.

Herrschaft über das Hymen

Nun ist ein selbstbestimmter, achtsamer Umgang mit der eigenen Sexualität gewiss nichts Schlechtes. Auch gegen die Ermutigung, sich einem verfrühten sexuellen Leistungsdruck zu widersetzen, ist sicherlich nicht einzuwenden. Trotzdem bleibt die Frage, ob die von Kreationisten und Fundamentalisten geprägten Bewegungen zuletzt nicht ganz andere Ziele verfolgen: nämlich die Reaktivierung konservativer Rollen und Familienbilder, die Normierungen der Vielfalt alternativer, individuell gestalteter Lebensentwürfe, den grundsätzlichen kulturellen und sexuellen Rollback auf breiter Front. Vieles spricht dafür, dass der Ruf nach Jungfräulichkeit am Ende doch nichts anderes ist, als ein Versuch fundamentalistischer Sittenwächter, die verlorene Kontrolle über das Hymen und die weibliche Sexualität wiederzuerlangen.

Ebenso fragwürdig und mit den Werten einer aufgeklärten, freien Gesellschaft unvereinbar ist das Konzept der Jungfräulichkeit auch immer dort, wo es als Druckmittel und Domestizierungsinstrument fungiert. Das gilt vor allem dann, wenn sich der männliche Kontrollwahn auf anatomisch völlig absurde Vorstellungen stützt. Die größte dieser Dummheiten ist dabei der Irrglaube, Jungfräulichkeit ließe sich körperlich nachweisen.

Die Lügenmär vom Jungfernhäutchen

Medizinisch ist die Sache mit dem Jungfernhäutchen nämlich Kokolores. Denn das Hymen, so der medizinische Ausdruck, ist gar kein Häutchen, sondern ein von Frau zu Frau unterschiedlich gestalteter Gewebesaum, der den Scheideneingang ringförmig umschließt. Manchmal ist dieser Ringsaum stark perforiert, manchmal fehlt er einfach ganz. Und weil es nicht existiert, kann das Jungfernhäutchen auch nicht beim ersten Geschlechtsverkehr durchstoßen werden oder einreißen. Der Saum bleibt ein Leben lang erhalten, auch wenn eine Frau mehrere Geburten hat. Die Form beziehungsweise das Fehlen des Hymens ist also definitiv kein Nachweis für Jungfräulichkeit und die sexuellen Erfahrungen einer Frau. Und kein Mann kann am Widerstand des Hymens spüren, ob er ein Mädchen entjungfert hat oder nicht. Alles völliger Unfug! Genauso wie die Vorstellung, dass eine Jungfrau beim ersten Geschlechtsverkehr bluten müsse. Denn tatsächlich blutet die Mehrheit aller Frauen nicht beim ersten Mal, und wenn es doch zu Blutungen kommt, liegen andere Ursachen vor: Auslöser ist meist eine Verletzung der ungenügend feuchten oder nervös verkrampfenden Scheidenöffnung, aber nie ein vermeintlich durchstoßenes Jungfernhäutchen.

Flickwerk und Kunstblut

Alle Versuche, die Jungfräulichkeit einer Braut durch so genannte "Jungfernproben" oder die Zurschaustellung des blutigen Brautnachtlakens nachzuweisen, sind also purer Humbug. Ein Humbug allerdings, der ernsthafte Folgen haben kann. Die Angst davor, die erwarteten "Entjungferungstrophäen" schuldig zu bleiben, kann extreme soziale und psychische Belastungen auslösen. Schon ein kurzer Blick in entsprechende Internetforen zeigt, in welche abgrundtiefen und dabei völlig überflüssigen Nöte zahlreiche Mädchen und junge Frauen geraten. Manche von ihnen werden zum doppelten Opfer: Zum einen sind sie demütigenden und anatomisch absolut sinnlosen Kontrollen unterworfen, zum anderen werden sie zur leichten Beute für Geschäftemacher, die gegen entsprechende Bezahlung die operative Rekonstruktion des Hymen versprechen. Alternativ und wohlfeiler gibt es auch das Modell "Jungfrau light": Dabei wird eine Kunststoffmembran in die Vagina implantiert, die im entscheidenden Moment eine beweiskräftige Dosis Kunstblut freigibt.

Tja. Da bleibt dann wohl nur noch der Rückgriff auf ein lateinisches Sprichwort: "Die Welt will betrogen werden, drum sei sie auch betrogen." Und wenn das so ist: An den Frauen liegt es jedenfalls nicht!


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