Der verordnete Volkszorn
Geschichte | MS, RS, Gy |
---|
Im November 1938 brennen in Deutschland die Synagogen. Jüdische Mitbürger werden ermordet, verletzt, gedemütigt. Ein rasender Mob zerstört Geschäfte und Wohnungen. Vor den Augen der Welt geht das NS-Regime zum offenen Terror gegen Juden über.
Der Leidensweg der Familie Both
Es ist kurz nach Mitternacht am 10. November 1938, als das jüdische Ehepaar Both vom Kinobesuch nach Hause kommt. SA-Männer haben die Scheiben ihres Bekleidungsladens in der Münchner Lindwurmstraße eingeschlagen und die Wohnungstür eingetreten. Die Randalierer lauern am Hauseingang, fallen über Joachim und Marjem Both her und verprügeln sie. Ein Schuss fällt, der 62-jährige Geschäftsmann ist tot. Laut Untersuchung handelt der Täter aus Notwehr. Die Familie Both muss die Wohnung sofort räumen, ihr Laden wird "arisiert". Die Tochter, die sich zum Zeitpunkt des Überfalls nicht in München aufhält, reist 1939 in die USA aus. Marjem Both wird im Herbst 1941 nach Litauen deportiert und dort erschossen.
Das NS-Regime organisiert die Novemberpogrome
Wenige Stunden vor dem Mord an Joachim Both hat Propagandaminister Joseph Goebbels - vermutlich nach Rücksprache mit Hitler - auf dem Traditionstreffen der NSPAP in München das Signal zur "spontanen Volkserhebung" gegeben. Jüdische Gotteshäuser gehen in der Nacht vom 9. zum 10. November deutschlandweit in Flammen auf. Mitglieder der NSDAP, der SA und der Hitlerjugend demolieren Ladengeschäfte, werfen Fensterscheiben ein, erniedrigen Männer und Frauen. Als Vorwand für den staatlich inszenierten Terror dient der Tod des Diplomaten Ernst vom Rath, der am 7. November in der deutschen Botschaft in Paris von dem 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan niedergeschossen wurde. Grynszpan, ein an Depressionen leidender junger Mann, wollte mit dem Attentat die Abschiebung seiner in Deutschland lebenden Familie nach Polen rächen. Nun wird seine Verzweiflungstat zum Meuchelmord im Auftrag des "Weltjudentums" stilisiert.
Antisemitischen Gewaltorgien
In der "Reichskristallnacht" - so die beschönigende Bezeichnung für die Pogrome - werden in Deutschland etwa 1.000 Synagogen, Betstuben und Gemeindehäuser niedergebrannt oder verwüstet. Ein fanatisierter Mob zerstört oder plündert die Geschäfte jüdischer Unternehmer und dringt in Wohnungen ein. Nach offiziellen Angaben kommen dabei 91 Personen ums Leben. Eine Strafverfolgung findet auf Anweisung des Justizministeriums nicht statt. Circa 30.000 Juden werden in den Folgetagen festgenommen, viele vorübergehend in Konzentrationslager gesperrt.
Der Sachschaden beträgt mehrere hundert Millionen Reichsmark. Die "frech gewordenen Juden", so der Zyniker Goebbels, müssen danach alle Schäden beseitigen und für die Kosten aufkommen. Versicherungsansprüche sind an das Reich abzutreten. In einer von Feldmarschall Hermann Göring unterzeichneten Verordnung heißt es: "Die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich, die auch vor feigen Mordtaten nicht zurückschreckt, erfordert entschiedene Abwehr und harte Sühne ... Den Juden deutscher Staatsangehörigkeit in ihrer Gesamtheit wird die Zahlung einer Kontribution von 1 Milliarde Reichsmark an das Deutsche Reich auferlegt." Die wirtschaftliche Existenz der deutschen Juden ist damit zerstört. Eine weitere Verordnung untersagt Juden die Tätigkeit in Einzelhandelsgeschäften, Versandhäusern, in selbständigen Handwerksberufen, im Handel und in Unternehmensleitungen.
Eine neue Dimension der Judenverfolgung
Mit den Novemberpogromen ändert die NS-Führung ihr Konzept der Judenverfolgung, das auf einem permanenten Lernprozess basiert. Bislang hatte das Regime die Juden, abgesehen von der Boykott-Aktion 1933, innerhalb eines gesetzlichen Rahmens mehr und mehr aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben ausgegrenzt. In der "Reichskristallnacht" legt die Staatsführung das Gewaltmonopol in die Hände einer "Volksgemeinschaft", eines fanatisierten Mobs. Nach Schätzungen beteiligen sich zehn Prozent der deutschen Bevölkerung an den Ausschreitungen. Juden sind, wie Morde und Plünderungen zeigen, nun gänzlich recht- und schutzlos. Um jüdische Männer im November 1938 in Konzentrationslager zu sperren, braucht es keine Haftbefehle mehr. Wer Juden ermordet, muss keine Strafverfolgung fürchten. Bis zur Shoa, der späteren Vernichtung der europäischen Juden, ist es kein weiter Weg mehr.