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Beste Alben der Zehner Jahre PJ Harvey liefert auf "Let England Shake" düstere Protestsongs für ein turbulentes Jahrzehnt

„Let England Shake“ - Zwölf schaurig-schöne Klagelieder und Trauermärsche, aufgenommen in einer alten Kirche in Dorset. PJ Harvey singt über ihre Hass-Liebe zu England, falschen Nationalstolz und die Gräuel des Krieges.

Von: Noe Noack

Stand: 29.11.2019 | Archiv

PJ Harvey | Bild: picture-alliance/dpa

Das Album ist wie ein Schlachtengemälde in Schwarz-Weiß - aus dem fortwährend Blut tropft. Es geht um falschen Nationalstolz, das Empire, aufgebaut mit Kanonen und Sklaverei. Und über Kriege in fernen Ländern, die Toten und das Leid auf beiden Seiten.

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PJ Harvey - Let England Shake | Bild: PJHarveyVEVO (via YouTube)

PJ Harvey - Let England Shake

Zum ersten Mal richtet PJ Harvey den Blick nach außen statt nach innen, beleuchtet eine zerfallende Gesellschaft und nicht ihre Seele. Und noch etwas ist neu: PJ Harvey verwendet erstmal Samples beziehungsweise lässt sie nachspielen. Im Titelsong penetriert ein Xylophon das Thema von „Istanbul (Not Constantinople)“ der Four Lads nach.

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PJ Harvey - The Glorious Land | Bild: PJHarveyVEVO (via YouTube)

PJ Harvey - The Glorious Land

 "The Glorious Land": es ist gepflügt mit Panzern und marschierenden Stiefeln. Trommeln und Handclaps steuern den Beat. Flöten und elektronische Tröten erzeugen eine gespenstische Stimmung, im Hintergrund sägt bedrohlich eine Kasten-Zither und plötzlich durchschneidet eine Trompetenfanfare die Szenerie: Sie gibt der Kavallerie das Zeichen zum Angriff.

Allein schon dieser Sound, der einen frösteln lässt, die Spannung, die damit erzeugt wird, ist großes Kino. Und dann natürlich die unglaubliche Intensität der drängenden, klagenden, flehenden Polly Jean Harvey. Verzweifelt fragt sie, was denn die glorreiche Frucht dieses Landes sei und der Chor antwortet ihr: Deformierte Kinder. Waisenkinder. Aber trotz aller Wut und Bitterkeit: PJ Harvey liebt ihr England, ist dankbar und verwurzelt in der Landschaft und Sprache – aber niemals und nicht eingehüllt von einer Flagge.

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PJ Harvey - The Words That Maketh Murder | Bild: PJHarveyVEVO (via YouTube)

PJ Harvey - The Words That Maketh Murder

Morbider Folk, fröhliche Volkslieder, verwehte, düstere Pop-Balladen und immer wieder Songzeilen, die wie Gedichte klingen: das ist die Spannbreite, die PJ Harvey auf „Let England Shake“ aufmacht. Und wie die Instrumente und PJ Harveys Stimme von den Kirchenwänden widerhallen. Ihre Stimme, die sie Männern leiht: „The Words That Maketh Murder“ - immer wieder sind die Songs aus der Perspektive von Soldaten geschrieben. Aber die Gräuel des Krieges kontrastiert PJ Harvey mit einem schunkeligen Folk-Song, zu dem man sofort tanzen möchte. Wären da nicht der traumatisierte Unteroffizier und die zerfetzten Soldaten, über deren Leichen die Fliegen surren und. Am Ende des Stücks zitiert PJ Harvey mehrmals Eddie Cochrans’ „Sommertime Blues“: „What if I take my problem to the United Nations?“   

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PJ Harvey - Written On The Forehead | Bild: PJHarveyVEVO (via YouTube)

PJ Harvey - Written On The Forehead

Ein paar Worte und Töne genügen, und schon ist man mittendrin in diesem Szenario aus brennendem Öl und fliehenden Menschen. Wie im Stück „Written On the Forehead“, wo PJ Harvey über ein Sample aus Niney The Observers Reggae-Hit „Blood&Fire“ klagt. Und die biblische Methaphorik und Endzeitstimmung des Rasta-Stücks nutzt, um über eine arabische Stadt im Kriegszustand zu berichten: „Let it burn, let it burn". „Let England Shake“ hat mich nicht mehr losgelassen in diesem dunklen Jahrzehnt. Mit ihrem Land und der Welt ringend hat PJ Harvey früh in dieser Dekade ihr Meisterwerk geschaffen – und die Messlatte hoch gelegt für jede neue Form des alten Protestsongs.


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