Meinung Die australische Breakdancerin Raygun hat eigentlich nur Liebe verdient
Selbst Adele lacht in München über den Auftritt der australischen Breakdancerin Rachael „Raygun“ Gunn. Ihre olympische Performance geht im Internet viral, doch hauptsächlich wird sich über ihre komischen Bewegungen lustig gemacht. Zu Unrecht.
Die Hände auf Brusthöhe, die Finger nach vorne abgeknickt wie bei einem Känguru. Dann wälzt sich die Frau im grün-gelben Outfit im Kreis auf dem Boden herum. Sie spreizt Arme und Beine weit ab, sieht aus wie ein halb totgeschlagenes Insekt, das seine letzten Zuckungen auf dem Boden erlebt. Szenen aus dem Auftritt der australischen Breakdancerin Rachael Gunn, „Raygun“, bei den olympischen Spielen in Paris. Mit ihren Moves ist Raygun gerade DAS Internetphänomen, Gesprächsthema Nummer eins. Auch, weil sie mit der Performance so unglaublich schlecht abgeschnitten hat. 0:54 hieß es für die Australierin am Ende nach drei Wettbewerben.
Selbst Adele lacht über Raygun
Im Netz erntet Raygun für ihre Performance bislang vor allem Spott und Hohn. Der Tenor: Im Grunde beweise Raygun, dass man sich eine Flasche Wein reinstellen und danach bei Olympia als Breakdancer auftreten könne. Sogar Adele erwähnt Raygun bei einem ihrer Konzerte in München. Sie sei das Beste, was dieses Jahr bei Olympia passiert sei, scherzt sie. Aber, so der Konsens bei Sängerin und Publikum: Vor allem, weil das alles so lächerlich aussieht. Zuspruch erhält Raygun dagegen kaum. Neben vielen Witzen wird auch kritisiert, dass Rachael Gunn talentierteren Sportlern die Teilnahme bei Olympia weggenommen hat. „Für die ganze Szene ist das ein furchtbarer Moment“, titelt der SPIEGEL. Höchste Zeit für einen Widerspruch. Für ein Zeichen der Menschlichkeit im Shitstorm. Denn wer sich genauer mit der Rachael Gunn auseinandersetzt, muss zu dem Schluss kommen, dass sie eigentlich keinen Hass, sondern uneingeschränkte Liebe verdient hat.
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Meet the 36-year-old Aussie college professor who lit up breaking at the Paris Olympics...
Warum Raygun eigentlich eine coole Socke ist
Wer ist Raygun, abgesehen vom Internet-Phänomen? Jemand, der seine große Leidenschaft lebt. Rachael Gunn ist eine australische Kulturwissenschaftlerin, die sich sogar in ihren wissenschaftlichen Arbeiten nur mit Hip-Hop-Kultur und Breakdancing beschäftigt. Worum es Raygun geht: Normen, Traditionen, Geschlechterrollen und Bilder bewusst aufzubrechen. Das, so analysiert sie, sei die große Stärke und überhaupt der Sinn von Breakdancing. Wenn man ihre wissenschaftlichen Arbeiten liest, wird klar, warum sich Raygun so wurmähnlich auf dem Boden bewegt. Auf der Website ihrer Alma Mater erklärt sie, dass die große Stärke von Breakdancing sei, mit Normen zu brechen. Raygun geht es also eher um eine Kunstform, die nach traditionellen Kriterien nicht zwingend „sportifiziert“ werden sollte. So ist Breakdance vor allem dazu da, neue Rollenbilder zu erschaffen und Klischees zu torpedieren. Nicht unbedingt dazu, sich zehnmal hintereinander auf dem Kopf zu drehen. Im Herzen ist Raygun also eher eine Rebellin, die mit ihrem Auftritt zeigt, dass es okay ist, anders zu sein, und dass man sich auch mal etwas trauen kann, was eigentlich als „hässlich“ gilt. Auf eine Interviewanfrage dazu reagiert sie leider nicht.
Raygun steht in olympischer Tradition
Außerdem ist Raygun nicht die erste Sportlerin, die durch eine katastrophale Olympia-Leistung auffällt. Im Grunde steht sie in bester olympischer Tradition. Da war zum Beispiel der britische Maurer Michael Edwards, besser bekannt als „Eddie the Eagle“. Er wollte unbedingt zu Olympia, und zwar als Skispringer. Obwohl es in ganz Großbritannien damals keine Schanzen und keine Skispringer gab. Außerdem war er auch noch kurzsichtig und musste deshalb beim Springen eine Brille tragen. „Eddie the Eagle“ war ein unglaublich schlechter Skispringer, aber anders als Raygun wurde er dafür gefeiert. Klar, es gab damals noch kein Internet. Aber bei der Abschlussfeier der olympischen Spiele in Calgary, wo Eddie letzter wurde, wurde er sogar als Positivbeispiel hervorgehoben. Und da war der äquatorialguieneische Freistilschwimmer Éric Moussambani, der berühmt wurde, weil er bei den olympischen Spielen in Sydney für die 100 Meter doppelt so viel Zeit benötigte wie der damalige Sieger. Auch er wurde von den Fans gefeiert, weil er den olympischen Geist verkörperte – und überhaupt erst acht Monate vor den Wettkämpfen Schwimmen gelernt hatte. Bislang waren sich alle einig, dass auch solche Geschichten den besonderen Reiz Olympias ausmachen. Mit Raygun gibt es jetzt ein neues Kapitel.
Raygun hat uns den „The Room“ der Sportwelt gegeben
Natürlich kann man kritisieren, was das überhaupt bei Olympia verloren hat. Wenn Breakdancing kein Sport ist, sondern eher politische Performance, dann muss man auch keinen sportlichen Wettbewerb daraus machen. Aber Raygun hat sportlich ja auch verdient schlecht abgeschnitten. Warum also nicht mit Liebe reagieren? Wie bei Tommy Wiseau, der die ganze Geschichte so schon vor zwanzig Jahren durchgespielt hat! Nur nicht bei Olympia, sondern in Hollywood. Wiseau war der Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller des Kultfilms „The Room“, der heute als der „schlechteste Film aller Zeiten“ gilt. Als Schauspieler erfuhr Wiseau nur Zurückweisung, aber er glaubte an seine Vision der Kunst und gab sechs Millionen US-Dollar aus, um seinen eigenen Film zu produzieren. Zunächst wurde er dafür von der gesamten Branche ausgelacht. Doch „The Room“ hat heute Kultstatus und Wiseau damit, wenn auch unfreiwillig, einen popkulturellen Hit erzeugt. Alle lieben ihn und seinen komischen Film – warum so nicht auch auf Raygun schauen?
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The Room (2003) Official Trailer - Original by @TommyWiseau
Wir alle brauchen dringend mehr Rayguns
Schließlich eröffnet das ganz neue Perspektiven. In der Welt der Musik so übrigens schon lange Praxis. 1981 fand im Berliner Tempodrom zum Beispiel die Veranstaltung „Die große Untergangs-Show – Festival Genialer Dilletanten“ statt. Es traten explizit Punk- und Noisebands auf, denen es darum ging, die perfekten Normen der Popmusik zu brechen. Ihre Idee: Auch aus hässlichen und abweichenden Dingen kann manchmal etwas Neues entstehen. So wollte man den drögen Realismus der Popwelt aufbrechen. Warum also nicht auch mal wurm- oder känguruähnlich Breakdancen? Schon jetzt spielen zahlreiche Menschen die Bewegungen von Raygun nach. Wer weiß, ob ein Raygun-Dance nicht noch die gespaltene Gesellschaft eint? Die Australierin so vielleicht etwas schafft, das weit über sportlichen Erfolg hinausgeht?
Rayguns Auftritt diskrediert Olympia nicht, im Gegenteil
Zu guter Letzt noch etwas zu denjenigen, die behaupten, Raygun würde die Sportart mit ihrem Auftritt diskreditieren. Schlechte Performances trivialisieren nicht die Spitzenleistungen. Im Gegenteil. Wer „The Room“ sieht, lernt auch, dass es schwer ist, gut zu schauspielern. Und Sportlerinnen wie Raygun oder Eddie the Eagle beweisen, dass Top-Leistungen nicht selbstverständlich daherkommen. Aber sie sind gleichzeitig auch wahnsinnig ermutigend. Weil sie zeigen, dass es völlig okay ist, seine Leidenschaft zu verfolgen und sich ein Ei darauf zu pellen, was andere über einen denken.