"Stop Making Sense" Wie dieser einzigartige Film die Magie der Talking Heads bis heute erlebbar macht
Er gilt als bester Konzertfilm aller Zeiten. Zurecht! Denn mit der restaurierten Fassung von "Stop Making Sense" kann man die Talking Heads-Magie auch 40 Jahre später noch im Kino erleben – selbst wenn man damals noch nicht einmal auf der Welt war.
Er wollte, dass sein Kopf möglichst klein aussieht. So beantwortet David Byrne, Frotmann der Band Talking Heads, eine Interviewfrage zu seinem legendärsten Look: Der "Big Suit", einen zu groß geratenen hellgrauen Anzug, der mit einer Art Korsett an seinem schlanken Körper hängt. New Yorker Designerin Gail Blacker hat dieses Outfit 1983 eigens für David Byrne designt. Der Künstler fand die Inspiration dafür im traditionellen japanischen Theater und trug den Anzug dann als Bühnen-Look für die Talking-Heads-Tour zum Album "Speaking in Tongues" im selben Jahr.
Drei Talking-Heads-Konzerte in L.A. für die Aufnahmen
Das Outfit ist mittlerweile Kult geworden, der "Big Suit" taucht immer wieder auf und immer wieder sind es deutliche Referenzen auf David Byrne. Ob im Pop, wie bei Kanye West oder Justin Bieber, in der Fashion-Welt, wie bei Drag Race USA oder in Film und Fernsehen, wie beispielsweise in der Cartoon-Serie "Doug" oder an Schauspieler Nathan Fielder in "The Anecdote".
Dabei wurde dem Outfit längst ein cineastisches Denkmal gebaut. Ein Denkmal, das es nun zum ersten Mal seit 40 Jahren wieder im Kino zu sehen gibt: Der Konzertfilm "Stop Making Sense". Auf der "Speaking in Tongues"-Tour machten die Talking Heads 1983 im Pantages Theatre in Los Angeles halt. Dort in Hollywood entstanden über drei Konzertabende hinweg die Aufnahmen zum Film und dem gleichnamigen Live-Album. Für viele gilt "Stop Making Sense" als der beste Konzertfilm, der je gedreht wurde. Und, ohne hier in himmelhochjauchzendes Pressetext-Geschwafel verfallen zu wollen: Das ist er. Irre gut.
"Stop Making Sense": Konzertfilm mit Storytelling-Elementen
Regisseur Jonathan Demme ("Das Schweigen der Lämmer") inszeniert den Auftritt der Band wie einen Kinofilm mit richtiger Handlung, die sich Stück für Stück entfaltet. Erst ist David Byrne ganz alleine auf der Bühne, präsentiert mit irrem Blick eine Alternativ-Version von "Psycho Killer". Bewaffnet nur mit seiner Gitarre und einem Synthie-Beat auf Tape stolpert er über die Bühne, während hinter ihm die Crew immer mehr Teile des Bühnenbilds und des Equipments aufbaut. Sukzessive kommen dann Song für Song immer mehr Musiker und Musikerinnen auf die Bühne und auch das Bühnenbild vervollständigt sich. Bei Song 7 ("Burning Down The House") steht die komplette Band zum ersten Mal vollzählig auf der Bühne. In einem Interview mit CBS erklärt Talking Heads-Bassistin Tina Weymouth dazu:
"Es ist eine Geschichte der Liebe, die wir hier erzählen. Der Film startet mit einer Person, alleine auf der Bühne, um die sich langsam aber sicher eine Community bildet."
Talking Heads-Bassistin Tina Weymouth
Mit jedem Song verändert sich etwas auf der Bühne. Jonathan Demme nutzt das Spiel mit Licht und Schatten, den Schnitt und Nahaufnahmen, um die Musik perfekt zu untermalen und die Emotionen der Band einzufangen. Interessant: Das Publikum sieht man nur am Ende wirklich deutlich. Einige Nahaufnahmen zeigen beim letzten Song tanzende Menschen im Publikum. Vorher behandelt Demme die Crowd eher als cineastisches Element, als dunkle Masse, die zwar in ihrer Existenz wichtig ist, aber hier nur einen Gegensatz zum Geschehen auf der Bühne darstellt.
YouTube-Vorschau - es werden keine Daten von YouTube geladen.
Stop Making Sense | Official Trailer HD | A24
Der Fokus aber liegt genau dort: Auf der Bühne. Und da wirken alle so, als wären sie Schauspieler in einem Biopic. David Byrne inszeniert sich wie eine Interpretation seiner selbst. Tanzt über die Bühne mit den berühmten Moves eines verrücktgewordenen Huhns und tanzt mit Stehlampen. Er gibt in jeder Sekunde alles. So als käme gleich ein Cut und wir sähen plötzlich Cilian Murphy (oder einen anderen Schauspieler, aber come on, wer sonst?) im Dolby Theatre, wie er gnädig nickt und 2 Minuten später seinen zweiten Oscar für den Besten Hauptdarsteller einsteckt.
Fast surreal und mit seinen 40 Jahre wirklich gut gealtert
"Stop Making Sense" ist ein Film über ein zeitgeschichtliches Ereignis, das so unglaublich rüber kommt, dass man es fast für surreal hält. Der Witz hier: Das war es auch auf eine Art und Weise. Es waren drei Konzert-Abende, die zusammengeschnitten wurden, und vieles in der Show war natürlich geplant und abgesprochen. Und trotzdem: Die Band und Crew formen eine perfekte Einheit, alles ist faszinierend gut aufeinander abgestimmt: Das Licht, der Ton, die Outfits, die Koordination des Auf- und Abbauens. Ja, sogar als David Byrne vermeintlich spontan das Sakko seines Big Suits auszieht, ist jemand just in dieser Sekunde zur Stelle, um es ihm abzunehmen.
Mit seinen 40 Jahren ist der Film wirklich gut gealtert, auch aus feministischer Sicht. Bei "Stop Making Sense" stehen drei Frauen auf der Bühne: Talking-Heads-Gründungsmitglied und Bassistin Tina Weymouth und die zwei Backgroundsängerinnen Ednah Holt und Lynn Mabry, beide Women of Color. Alle drei sind weder als Deko noch als Zaungast beim Auftritt; sie sind ein wichtiger Teil des Geschehens und stehen selbst im Mittelpunkt. Auch durch den Fokus, den Demme ihnen im Film immer wieder gibt. Wie beeindruckend ist es auch heute noch, Holt und Mabry dabei zuzusehen, wie sie mühelos mit dem Marathon-Lauf mithalten, den David Byrne während "Life During Wartime" hinlegt – um dann nicht mal außer Atem zu klingen, während sie die Harmonien dazu singen.
Einziges Manko: das lame Publikum
Als Mittzwanzigerin bin ich wahnsinnig froh, die Magie der Talking Heads auch 40 Jahre später noch erleben zu können. Nur ein bisschen mehr Engagement des Publikums hätte ich mir im Kino gewünscht. Während ich einfach nicht stillsitzen konnte, haben die anderen noch nicht mal den Kopf bewegt.
Vielleicht ist das aber auch so ein Deutschland-Ding. Nächstes Mal fahre ich einfach nach New York und gucke "American Utopia", wenn ich gute Stimmung und Talking Heads-Musik vereint haben möchte. Wer weiß, vielleicht treffe ich ja sogar David Byrne selbst, auf dem Weg zu einem New York-Dry-Cleaning-Store, bei dem er seine Original Big Suit nach 40 Jahren Aufbewahrung abholt.