Religion & Orientierung


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Lebensläufe Charlotte Knoblochs Traum wurde wahr

In der Nachkriegszeit wollte Charlotte Knobloch München verlassen. Doch sie ist geblieben und setzt sich intensiv für die jüdische Gemeinde der Stadt ein, seit 1985 als ihre Präsidentin. 2005 wurde sie Ehrenbürgerin von München. Von 1997 bis 2006 war Charlotte Knobloch Vizepräsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Stand: 17.12.2020 | Archiv

Charlotte Knobloch 2005 | Bild: picture-alliance/dpa

Charlotte Knobloch, Vorsitzende der jüdischen Gemeinde München, arbeitete jahrzehntelange hart für ihren Traum: dem Bau eines neuen Gemeindezentrums im Herzen der Stadt. Am 9. November 2006 geht er in Erfüllung - am St.-Jakobs-Platz wird die neue Hauptsynagoge eingeweiht. Wurde Knobloch früher danach gefragt, ob sie sich in der Stadt "zu Hause" fühle, verwies sie später stets darauf, dass sie in München schon lange lebe und arbeite. "In diesem Sinn fühle ich mich zu Hause," hat sie einst Ellen Presser in einer Dokumentation über "Jüdisches Leben in München" anvertraut. Überschwängliche Heimatbezogenheit hört sich eigentlich anders an.

Das hat seine Gründe

Charlotte Knobloch wird 1932 - also früh genug - geboren, um Ausgrenzung und braunen Terror in der "Hauptstadt der Bewegung" bewusst wahrzunehmen: rassistische Beleidigungen durch Nachbarskinder, Hausdurchsuchungen durch die Gestapo, Festnahme des Vaters in der eigenen Wohnung. Nach der Scheidung der Eltern hatte die Großmutter die Erziehung übernommen - doch nur für kurze Zeit: 1942 wird sie ins KZ deportiert.

Demütigende Erfahrungen

Charlottes Vater Fritz Neuland hatte für den Kaiser im Weltkrieg gekämpft und war daraus mit Auszeichnung zurückgekehrt. In den 1920er-Jahren wurde er in München ein bekannter Rechtsanwalt, einer seiner Kanzleipartner war der spätere bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner.

Wütender Antisemitismus: Pogromnacht von 1938

Neuland war in München gesellschaftlich wie beruflich arriviert. Wie viele vollständig assimilierte Juden konnte auch er sich nicht vorstellen, wie menschenverachtend man später mit ihm umgehen wird. 1938 muss er sich auf behördliche Weisung von Fritz in "Siegfried" umbenennen, der zweite Vorname "Israel" ist ohnehin seit 1. Januar des Jahres für jeden männlichen Juden verpflichtend. Während des Krieges beuten ihn die Nazis als Zwangsarbeiter aus, nur knapp entgeht er der Deportation.

Versteck bei Bauernfamilie

Zuvor, 1940, war es Neuland noch gelungen, seine achtjährige Tochter in Sicherheit zu bringen. In einer abenteuerlichen Aktion - Bahn fahren war für Juden zu jener Zeit verboten - schickt er sie per Zug in die mittelfränkische Provinz, wo sie eine katholische Bauernfamilie aufnimmt. Dort gibt man sie als eigenes, uneheliches Kind aus und rettet sie damit vor dem Zugriff der Nazis. Nach Kriegsende kehrt sie nach München zurück und besucht die Handelsschule.

Auswanderungspläne

undatierte Aufnahme

1951 heiratet sie Samuel Knobloch, einen Juden aus Krakau, der nach Kriegsende in die amerikanische Besatzungszone nach Bayern geflohen war. Wie die meisten überlebenden Juden können sich beide zunächst nicht vorstellen, ihre gemeinsame Zukunft im Land der Judenmörder zu verbringen und wollen in die USA emigrieren. Doch die Geburt des ersten von insgesamt drei Kindern durchkreuzt den Plan.

Soziale Gemeindearbeit

Zunächst kümmert sich Charlotte Knobloch in erster Linie um ihre Familie, bekommt aber nebenbei auch Einblick ins jüdische Gemeindeleben - ihr Vater ist seit 1951 Präsident der kleinen Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) München. Hatten 1930 noch etwa eine halbe Million Juden in Deutschland gelebt, bestanden jüdische Gemeinden nach dem Massenmord durch die Nazis meist nur aus wenigen hundert Mitgliedern.

Die meisten kamen als so genannte "Displaced Persons" aus Osteuropa und brachten eine streng orthodoxe Ausrichtung mit. Charlotte Knobloch verstärkt ihr Engagement für diese Personengruppe in Form von Sozialarbeit und Altenbetreuung. Außerdem begründet sie die Zionistische Frauenorganisation mit.

Vorsitz in München seit 1985 - im Zentralrat seit Juni 2006

Als 1985 der Präsident der Münchner IKG, Hans Lamm, stirbt, wird Charlotte Knobloch zu seiner Nachfolgerin gewählt. Das Amt tritt sie als erste Frau in einer Großgemeinde seit 1945 an - und hat es bis heute ohne Unterbrechung inne. Die orthodoxe Tradition der Münchner IKG seit Kriegsende behält sie bei. 1997 wird sie Vizepräsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Ehrenbürgerin von München

1999, nach dem Tod des Zentralrats-Vorsitzenden Ignatz Bubis, kündigt sie an, dessen Posten anzustreben. Gewählt wird allerdings Paul Spiegel. Nach dessen Tod im April 2006 wählt der Zentralrat am 7. Juni die Nachfolgerin: Charlotte Knobloch. Ihr folgt am 28. November 2010 Dieter Graumann.

Das neue Gemeindezentrum - ein Traum geht in Erfüllung

Drohte den jüdischen Gemeinden in Deutschland in den 1980er-Jahren noch das Verschwinden, wachsen sie seit Beginn der 1990er-Jahre wieder kräftig, vor allem durch den Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Mit mittlerweile 9.000 Mitgliedern steht Charlotte Knobloch der inzwischen zweitgrößten jüdischen Gemeinde nach Berlin vor.

"Seit jenem November 1938 ist ein Teil von mir, ein Teil meiner Koffer immer noch auf der Flucht. Am Abend des heutigen Tages jedoch, des 9. November 2003, werde ich diese Koffer öffnen und damit beginnen, langsam, Stück für Stück, jedes einzelne Teil an seinen Platz zu räumen, den ich dafür die letzten 65 Jahre freigehalten habe."

Charlotte Knobloch bei der Feier zur Grundsteinlegung am 9. November 2003

Nicht nur vor diesem Hintergrund durfte als wichtigstes Projekt ihrer Arbeit in München das neue Jüdische Gemeindezentrum mit neuer Hauptsynagoge und Museum betrachtet werden. Obwohl dessen Bau viele lange als unfinanzierbar einstuften, ist der Traum der als durchsetzungsfähig geltenden Charlotte Knobloch doch verwirklicht worden.

Neue Münchner Hauptsynagoge "Ohel Jakob"

Am 9. November 2006 wurde das Gebäude nahe des Marienplatzes eingeweiht. Nun haben Juden in München, wo von 1887 bis 1938 die drittgrößte Synagoge Deutschlands stand, inmitten der Stadt wieder ein repräsentatives Zuhause.

"Erstmals spüre ich Resignation"

Im September 2012 sagte Knobloch, dass sie sich jahrzehntelang in der jüdischen Welt rechtfertigen musste, weil sie nach dem Völkermord der Nationalsozialisten in Deutschland geblieben sei. "Ich habe diese Last immer gerne getragen, weil ich der festen Überzeugung war, dass es dieses Land und seine Menschen verdient haben", schrieb Knobloch in einem Aufsehen erregenden Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung". Doch sechs Jahre nach dem Erfolg der neuen Synagoge hätten sie doch Zweifel beschlichen. "Erstmals geraten nun meine Grundfesten ins Wanken. Erstmals spüre ich Resignation in mir", so Knobloch. Ausgelöst worden sei diese durch die Beschneidungsdebatte. "Ich frage mich ernsthaft, ob dieses Land uns noch haben will (...) Ich frage mich, ob die unzähligen Besserwisser aus Medizin, Rechtswissenschaft, Psychologie oder Politik, die ungehemmt über 'Kinderquälerei' und 'Traumata' schwadronieren, sich überhaupt darüber im Klaren sind, dass sie damit nebenbei die ohnedies verschwindend kleine jüdische Existenz in Deutschland infrage stellen."


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