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70 Jahre Bergsteigerredaktion Zwei konträre Lebensentwürfe: Viktor Frankl und Franz Grassler

Am 24. November 1948 ging das damalige Magazin „Für den Bergsteiger“ zum ersten Mal auf Sendung. Diese Kontinuität seit 70 Jahren ist weltweit einzigartig und wir begleiten das besondere Ereignis mit einer kleinen Serie.

Von: Georg Bayerle

Stand: 15.11.2018

Blick über die östlichsten Ausläufer der Alpen zur pannonischen Tiefebene | Bild: BR/Georg Bayerle

Es ist schon erstaunlich, wie die Bergsteigersendung so kurz nach dem Krieg zu einer Normalisierung beigetragen hat.

Viktor Frankl

Fernwirkungen der düsteren Ereignisse der Nazi-Zeit haben aber auch die Bergsteigersendung gestreift. So kam hier öfters der Holocaust-Überlebende und Bergsteigerphilosoph Viktor Frankl zu Wort. Ein Mitarbeiter der Bergsteigersendung wiederum, Franz Grassler, hatte auf der anderen Seite gestanden. Beide waren in Wien geboren und auf gegensätzlichen Seiten Beteiligte der Ereignisse in Nazi-Deutschland – zwei konträre Lebensentwürfe.

Viktor Frankl war kein überragender, aber ein leidenschaftlicher Bergsteiger. Seine Lieblingstour war der Drei-Enzian-Steig auf der Rax, eine Kletterei im dritten Schwierigkeitsgrad. Frankl stand auch auf der Großen Zinne und kletterte durch die Steinerführe in der Dachstein-Südwand, denn Klettern war für ihn weit mehr als eine schöne Alpinbetätigung – es war eine Möglichkeit, die Angst zu überwinden. Darin liegt schon ein zentraler Gedanke von Frankls „Logotherapie“: Klettern wird durch die Überwindung des lähmenden Gefühls der Angst zur erlebten Sinnhaftigkeit - und als Gesamterlebnis erfüllt die Bergtour den Menschen.

Raffinierte Wegführung durch den Felsabsturz

Viktor Frankl gehörte auch zur jüdischen Sektion Donauland, die mit dem zunehmenden Antisemitismus 1924 auf der Hauptversammlung in München aus dem Deutsch-Österreichischen Alpenverein ausgeschlossen wurde. Der ebenfalls in Wien geborene, ein paar Jahre jüngere Franz Grassler beginnt damals eine im Nachhinein höchst fragwürdige Karriere als angehender Jurist. 1955 nimmt Grassler die Hörer der Bergsteigersendung im damaligen Erzählstil mit auf eine Skitour von Lenggries zur Benediktenwand. Die Berge, die Aussicht, die freie Luft – es finden sich verbindende Elemente in der Art wie beide, Frankl und Grassler, über das Bergsteigen sprechen. Es ist eine wunderbare Gegenwelt zu all den Alltagsnöten und zur düsteren Vergangenheit, die 1955 gerade einmal zehn Jahre zurückliegt. Franz Grassler ist damals freier Mitarbeiter in der Bergsteigerredaktion des Bayerischen Rundfunks.

Über 100 Jahre alte eiserne Steigbäume

Um 1980 holt ihn die Vergangenheit ein: Er wird als Zeitzeuge von Claude Lanzmann für seinen Film „Shoah“ über den Holocaust interviewt und gefragt, ob er sich an die Zeit erinnert. Franz Grassler antwortet: „Ich kann mich erinnern an Bergtouren vor dem Krieg besser als an die ganze Kriegszeit und auch an diese Zeit in Warschau. Irgendwie war das doch eine bedrückende, eine schlechte Zeit. Eindeutig, dass der Mensch schlechte Zeiten – Gottseidank – leichter vergisst als schöne Erinnerungen. Die sind verdrängt.“

1941 wurde Franz Grassler Stellvertreter des deutschen Kommissars des Warschauer Ghettos, des für seine Brutalität berüchtigten Heinz Auerswald. Vom Vorsitzenden des Ältenrats des Ghettos, Adam Czerniakow, wird Grassler in dessen Tagebüchern erwähnt. Viktor Frankl wurde 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert und 1944 nach Auschwitz. 1993 spricht er auch darüber in der Bergsteigersendung des BR. Die Erinnerung an die Berge und das Bergsteigen half ihm damals zu überleben. „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ heißt das über neun Millionen Mal verkaufte Buch, in dem der Wiener Psychologe die Geschichte verarbeitet hat.

Preinerwand - auf der linken Seite verläuft der Drei-Enzian-Steig

Noch bis 1984 ist Viktor Frankl den Drei-Enzian-Steig geklettert. Franz Grassler hatte Claude Lanzmann auf die letzten Fragen kaum noch geantwortet, wie einer der Dialoge zeigt: „Herr Doktor der Juristerei, was taten Sie nach dem Krieg? – Ich schrieb über Berge und veröffentlichte Bergbücher. – Ist Bergsteigen Ihr Hauptinteresse? – Ja – Die Berge, die Luft... – Ja – Die Sonne, die reine Luft. -  Nicht wie die Luft im Ghetto, ja.“

Ab 1957 war Franz Grassler als Staatsanwalt und Oberlandesanwalt beim Bayerischen Verwaltungsgericht München tätig. Für ihn waren die Berge sicherlich auch eine Flucht vor der Last der eigenen Vergangenheit. Während Viktor Frankl die Erinnerungen an die Berge in den schlimmsten Jahren am Leben hielten, während der eine, Viktor Frankl, die furchtbaren Ereignisse zu seiner speziellen Existenzanalyse und zu einer Philosophie des Bergsteigens weiterentwickelt hat, wurde die Geschichte des anderen, Franz Grassler, nie weiter hinterfragt, es liegen auch keine besonderen Äußerungen dazu vor. Getroffen haben sich beide im Sehnsuchtsziel der Berge – nur von dramatisch unterschiedlichen Perspektiven aus.


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