Fernweh-Alpenmagazin Ein Streifzug durchs Engadin
Im Fernweh-Alpenmagazin durchstreifen wir eine ganz besondere Region innerhalb des Schweizer Kantons Graubünden: das Engadin, auf Rätoromanisch "Engiadina". Das Rätoromanische ist eine der vier offiziellen Schweizer Landessprachen. Im Engadin und speziell im Unterengadin ist das rätoromanische Idiom "Vallàder" lebendig - ein Idiom, das wie Musik in den Ohren klingt.
Das Engadin ist sozusagen „der Garten am Inn“, abgeleitet von „En“, dem rätoromanischen Namen des Inn. Es ist eines der höchstgelegenen bewohnten Täler im Alpenraum, über 80 Kilometer lang, in einer Höhenlage zwischen 1000 und 1800 Metern. Als „vallis Eniatina“ taucht es in einer lateinischen Schrift aus dem Jahr 930 erstmals auf – das „Tal der Anwohner am Inn“.
Die Landmarke Punt Ota zwischen Schanf und Zernez teilt das Hochtal in das Ober- und Unterengadin. Das „Engiadin’Ota“, das Oberengadin, ist ein fast ebener Talboden mit Arven- und Lärchenwäldern, mit malerischen Seen und gleißenden Gletschern und dem ganzen Glanz und Glamour rund um St. Moritz. Vor allem aber ist es eine Landschaft mit einem ganz speziellen Licht, die seit jeher Maler und Literaten anzieht – eine alpine Landschaft, in der, um mit Nietzsche zu sprechen, Finnland und Italien verschmelzen. Das Oberengadin gipfelt im Piz Bernina, dem einzigen Viertausender der Ostalpen, und ist einer der winterkältesten Landstriche in den Alpen. Ganz anders wirkt das „Engiadina bassa“, das Unter-Engadin: enger, steiler und wilder. Durch die dunkle Schlucht von Finstermünz presst sich der Inn hinaus nach Österreich. Hier ist, wenn man so will, der Bauch des Engadins. Der Kopf befindet sich oben am Malojapass und dazwischen liegt das Herzstück des Engadins: der Schweizer Nationalpark, der einzige in der Schweiz und zugleich der älteste Nationalpark der Alpen, gegründet 1914, an die 170 Quadratkilometer groß, steinbockreich und mit dem Piz Quattervals, einer dunklen Felspyramide aus Schutt und Geröll.
Von Südtirol, vom Vinschgau ins Unterengadin führen alte Schmugglerwege an der Sesvennahütte vorbei und über den Schlinigpass hinab nach Sur En. Dabei geht es auch durch die bei Mountainbikern auf der Transalp beliebte Uina-Schlucht – eine wilde, atemberaubende Passage. Nicht weit entfernt von Sur En liegt die 400-Seelen-Gemeinde Ramosch. Hier lebt seit über 17 Jahren glücklich verheiratet die gebürtige Werdenfelserin Nina Mayer aus Oberau bei Garmisch. Sie hat Gesang studiert, ist Stimmpädagogin, Chorleiterin und Musikschullehrerin, bildet zusammen mit Sidonia Cavietzel das Duo „Mi Amia“ und komponiert und textet Lieder in „rumantsch“, zum Beispiel „Chara bella Engiadina“ – liebes schönes Engadin - oder „Mia Muntogna“ – mein Berg.
Markante Berge gibt es viele im Engadin: vom Piz Bernina und Piz Palü über den Piz Corvatsch und Piz de la Margna, den Wächter des Oberengadins, bis zum Piz Linard und Piz Buin, der nicht nur zur Silvretta gehört, sondern auch zum Engadin. Der Aufstieg über seine Schweizer Südseite erfolgt von Guarda aus, einem der schönsten Engadiner Dörfer, über die Tuoi-Hütte.
Eine sehr spezielle alpine Harmonie prägt das Oberengadin: eine Aura aus Landschaft, Licht und Liebe, die seit jeher die Künstler angezogen hat. Viele von ihnen haben im legendären Waldhaus in Sils logiert, Hermann Hesse, Friedrich Nietzsche und viele mehr. Bis heute ist das Hotel ein luxuriöses Refugium der Reichen, denen die Stille wichtiger ist als das Sehen und gesehen werden - ein Hotel-Salon schöngeistiger Sommerfrischler mit Hang zur Nostalgie. Die Kutschfahrten von Sils-Maria ins Flextal, das mit seinem Gletscher-Panorama als schönstes Seitental des Oberengadins gilt, sind immer noch beliebt. Lohnenswert ist aber auch eine Wanderung rund um den Silser See, vorbei am Nietzsche-Stein, der genau an der Stelle steht, an der Nietzsche viele seiner Gedichte geschrieben hat. Berühmt ist der See auch für die „Silser Kugeln“ – kleine „Bälle“ aus Wasser und Lärchennadeln, die der berühmte Malojawind im Herbst formt und ans Ufer treibt. In Form und zusammen gehalten werden die Silser Kugeln durch das Lärchenharz.
Es ist vor allem das besondere Licht, das die Magie dieser Gebirgslandschaft ausmacht, ein strahlendes Azur. Diesem Zauber ist auch der Maler Giovanni Segantini erlegen. Sein Lieblingsplatz war der Schafberg oberhalb von Pontresina, wo heute die Segantini-Hütte steht und wo er 1899 auch gestorben ist. Hier war er auf der Suche nach dem Licht, denn er wollte die Farben der alpinen Landschaft so authentisch wie möglich wiedergeben, wie zum Beispiel auf seinem Alpentriptychon „Werden-Sein-Vergehen“ für die Weltausstellung in Paris im Jahr 1900. Um das Licht einzufangen, entwickelte Segantini den „Divionismus“ - dicht nebeneinander gesetzte Pinselstriche in reinen ungemischten Farben. In poetischen Briefen an seine geliebte Frau Bice Bugatti schwärmt er zudem vom Duft der Arven im Engadin, ebenso vom Duft der Veilchen und Zistrosen. Und diese Düfte hat die Allgäuer Parfümeurin Beate M.T. Nagel zusammen mit Segantinis Enkelin Gioconda Leykauf-Segantini im Bergparfum „Luce di Segantini“ eingefangen. Dieser Duft voller Licht und Luft ist ein Gesamtkunstwerk im Sinne Giovanni Segantinis.
Auf den Spuren des Alpenmalers verläuft im Oberengadin der „Sentiero Segantini“. Von Pontresina aus geht es in steilen Serpentinen hinauf zur knapp 2800 Meter hoch gelegenen Segantini-Hütte auf dem Schafberg. Schräg gegenüber auf der anderen Talseite von Pontresina liegt die legendäre Diavolezza, knapp 3000 Meter hoch und ganzjährig durch eine Seilbahn erschlossen. Von der Bergstation der Diavolezza führt eine eindrucksvolle Hochtour über den Persgletscher auf den Piz Palü, 3900 Meter hoch. Der markante Berg mit seinen drei Gipfeln und Felspfeilern ist eine Alternative für alle Alpinisten, die sich den Piz Bernina mit der messerscharfen Firnschneide des berühmten Biancograts vielleicht noch nicht zutrauen.