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Schlaganfall, Sprachverlust Aphasie: Wenn die Sprache plötzlich weg ist

Wir reden, rufen, singen, streiten. Mit Sprache machen wir uns verständlich, tauschen uns aus. Ein Alltag ohne Sprache – kaum auszudenken. Doch diese Katastrophe betrifft jedes Jahr rund 100.000 Menschen. Sie erleiden eine Aphasie, verlieren plötzlich die Fähigkeit zu sprechen.

Von: Bernd Thomas

Stand: 11.04.2023

Stolperstein: Aphasie · Wenn die Sprache plötzlich weg ist

Sprache und Sprechen sind zentral für unsere Kommunikation. Wir nutzen sie auch zum Schreiben, Lesen, Lernen, Denken und Begreifen. Haben wir als Kinder einmal sprechen gelernt, verändert das unseren Alltag grundlegend. Es öffnet uns die Welt, den Zugang zu Menschen, Gedanken, neuen Lebenswelten.
Viele meinen, Sprache und Sprechen seien selbstverständlicher Teil von uns. Doch das stimmt nicht ganz. Sprache und Sprechen sind hochkomplexe, erlernte Fähigkeiten unseres Gehirns - solange es reibungslos funktioniert.

Aphasie: Folge schwerer Verletzungen des Gehirns

Wenn bei einem Schlaganfall das Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfte betroffen ist, kommt es zu einer Aphasie.

Schlaganfälle sind dritthäufigste Todesursache in Deutschland, und für die, die sie überleben, neben Gehirnblutungen und Schädelhirntraumen, häufig Ursache schwerer Verletzungen des Gehirns. Insgesamt rund 200.000 Menschen erleiden jedes Jahr einen ersten, rund 66.000 zum wiederholten Mal einen Schlaganfall.

Eine mögliche Folge einer Gehirnverletzung ist die Aphasie, der teilweise oder komplette Verlust der Sprache. Sie tritt immer dann auf, wenn das Sprachzentrum betroffen ist, das in der linken Gehirnhälfte liegt. Bei rund 40 Prozen der Menschen, die einen Schlaganfall überleben, ist das der Fall.

Aphasie: gravierende Folgen für Leben und Alltag

Aphasiker haben oft gravierende Wortfindungsstörungen.

Das Tragische: Die Tatsache, dass Aphasiker nicht mehr verstehen, sprechen, lesen, schreiben oder rechnen können, hat nichts damit zu tun, dass sie nicht mehr denken könnten oder plötzlich weniger intelligent wären. Aphasiker nehmen ihre Gedanken und Gefühle wahr, sind sich selbst darüber im Klaren. Aber sie können sich nicht mehr über Sprache, Lesen und Schreiben mitteilen. Wortfindung, -verständnis und Sprachproduktion sind dramatisch gestört und damit die Kommunikation mit der Außenwelt.

Obwohl Aphasie nichts mit Intelligenz zu tun haben muss, können Aphasiker nicht sprechen: Sie finden die richtigen Worte nicht.

Eine Aphasie verändert das Leben immer grundlegend und radikal. Und sie betrifft nicht nur den Verletzten selbst, sondern auch Angehörige und Umwelt. Je gravierender die Verletzungen und je ausgeprägter die Störungen sind, desto schwieriger ist die individuelle Situation. Die Probleme reichen von Schwierigkeiten, Sätze zu bilden bis hin zur Unfähigkeit, Sprache und Worte zu verstehen oder sich selbst überhaupt mitteilen, rechnen, lesen oder schreiben zu können.

Sie haben Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit anderen.

Außerdem spielt zusätzlich immer eine Rolle, ob und wie schwer andere Regionen des Gehrins beeinträchtigt sind. Oft haben Aphasiker deshalb nicht nur mit Sprachproblemen, sondern auch mit zusätzlichen Einschränkungen zu kämpfen, wie sie viele Schlaganfallpatienten treffen.

Aphasie: Welche Therapien helfen?

Die wichtigste Therapie für Aphasiker ist Sprachtherapie, die Logopädie. Holger Grötzbach leitet die Abteilung Logopädie der Asklepios Rehaklinik Schaufling und hat die Leitlinie für die Therapie von Aphasien mit entwickelt.

"Sprachtherapie macht zu jederzeit der Erkrankung Sinn. Es gibt keinen Zeitpunkt, wo Sie sagen könnten, Logopädie sei nicht nützlich, würde nichts bringen. Was ist die Bedingung? Die Bedingung, die wir im Augenblick sehr gut kennen, ist, dass Sprachtherapie früh einsetzen sollte, am besten schon im Akutkrankenhaus, in der stationären Reha, aber dann auch in den ambulanten Praxen vor Ort. Die zweite Bedingung ist: Wir wissen heute, dass viel viel nutzt. Im Klartext bedeutet das, je mehr Therapie ein Patient pro Woche bekommt, desto mehr sind auch Fortschritte zu erwarten. Und das ist selbst dann der Fall, wenn die Aphasie schon mehrere Jahre besteht."

Holger Grötzbach, Logopäde, Asklepios Klinik Schaufling

Der Erfolg der Therapie hängt immer auch davon ab, wie schwer das Sprachzentrum betroffen ist und ob und wie schwer zusätzlich noch andere Bereiche des Gehirns geschädigt sind. Das Gehirn ist zwar in der Lage Funktionen durch andere Regionen zu übernehmen, allerdings sind die Möglichkeiten dabei begrenzt.

"Wir können zwar darauf hoffen, dass die rechte Hirnhälfte Anteile übernehmen wird. Aber dadurch, dass sie von Natur dafür nicht vorgesehen ist, sind die Möglichkeiten nicht so, wie wir sie auf der linken Hirnhälfte hätten. Das Gros der Patienten hat die Sprache übrigens wie Sie und ich auch, aber sie ist verschüttet. Tatsache ist, wir arbeiten nicht nur daran, dass wir eine neue Hirnareale stimulieren, sondern das Hauptinteresse der Sprachtherapeuten liegt darin, dieses verschüttete Wissen den Patienten tatsächlich wieder zugänglich zu machen."

Holger Grötzbach, Logopäde, Asklepios Klinik Schaufling

Aphasie trifft auch junge Menschen

Aphasie trifft auch jüngere und junge Menschen, wie zum Beispiel Anja Baumer. Heute ist sie eine lebenslustige, interessierte, aufgeschlossene junge Frau voller Tatendrang. Kaum zu glauben, wenn man ihre Geschichte kennt. Mit zwölf Jahren erlitt die damalige Gymnasiastin eine schwere Gehirnblutung.

Aphasie trifft auch junge Menschen.

Sie ist seither halbseitig gelähmt und konnte einige Jahre kaum mehr sprechen. Obwohl manche Ärzte und Therapeuten ihr kaum eine Chance auf ein einigermaßen normales Leben gaben und nicht für möglich hielten, dass sie einen Beruf ergreift, gaben sie und ihre Eltern nicht auf. Unermüdlich absolvierte sie Therapien, Rehabilitationen und suchte unverdrossen nach einer Möglichkeit, eine Berufsausbildung zu absolvieren.

Aphasie Selbsthilfe: Experten in eigener Sache

Immer wieder musste Familie Baumer dabei Rückschläge hinnehmen, aber sie entwickelten sich zu Experten in eigener Sache. Auch die Selbsthilfe, der Bundesverband Aphasie, wurde für sie zur wichtigen Anlaufstelle. Selbstbewusst wehrten sie sich gegen Unwissen, Ignoranz, vorschnelle Entscheidungen von Behörden und den Rat einzelner Therapeuten, die eine weitere positive Entwicklung Anjas nicht für möglich hielten oder schlichtweg behindert hätten.

Heute hat es Anja Baumer geschafft. Sie kämpfte sich zurück, absolvierte den Quali in einer Regelschule, mit Unterstützung einer Schulbegleiterin,  und beendete erfolgreich eine Berufsausbildung zur Fachpraktikerin Hauswirtschaft in der Stiftung ICP in München, Voraussetzung für einen erfolgreichen Start ins Berufsleben.

"Wir sind spezialisiert auf Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen und auch chronischen Erkrankungen. Das sind junge Menschen, die ihre Schule abgeschlossen haben und sich dann für eine duale Ausbildung interessieren. Ungefähr ein Viertel der jungen Menschen hier haben Unterstützungsbedarf im Bereich Sprache, haben also Probleme mit der Sprache oder eine Sprechbehinderung. Und dazu zählen natürlich auch Aphasien. Über die Jahre hinweg kann man sagen, dass gerade in der Hauswirtschaft, in der auch Frau Baumer ihre Ausbildung gemacht hat, mehr als zwei Drittel den Schritt in den allgemeinen Arbeitsmarkt gut schaffen."

Wolfgang Heizer, Stiftung ICP München

Einen Beruf zu finden, ist für Aphasiker oft schwer.

Im Juni 2021 begann Anja Baumer schließlich im Augustinum in Roth bei Nürnberg im Service zu arbeiten. Ihre Bewerbung dort hatte Eindruck hinterlassen. Nach einem Praktikum war für Direktor Wolfgang Wagner dann die Sache klar. 

"Zunächst einmal ist es ein selbstverständliches Anliegen bei uns im Augustinum, dass wir Menschen mit Behinderungen in unsere Arbeitsprozesse integrieren. Wir schauen dabei, wo können wir Arbeitsprozesse anpassen und auf die Bedürfnisse des Einzelnen ausrichten. Aber das sind vollwertige Arbeitsplätze, die auch vollen Einsatz erfordern. Was letztendlich bei Frau Baumer den Ausschlag gegeben hat, ist, dass sie einfach toll bei den Bewohnerinnen und Bewohner ankommt. Sie hat eine sehr, sehr positive Ausstrahlung. Und so waren dann auch die Rückmeldungen. Nach dem Praktikum im Restaurant haben mich viele Bewohner gefragt und waren sehr, sehr angetan."

Wolfgang Wagner, Augustinum Roth

Aphasie: Rehabilitation mit Zeit und beschütztem Rahmen

Aphasie: Therapie und Rehabilitation nutzen zu jeder Zeit.

Neben den regelmäßigen Therapien zu Hause waren für Anja Baumer die Reha-Aufenthalte im Hegau-Jugendwerk in Gailingen besonders wichtig. Insgesamt verbrachte sie rund zweieinhalb Jahre hier, absolvierte eine Berufsvorbereitung, konnte ihre Persönlichkeit entwickeln und dabei auch eine innere Sprechblockade überwinden.  

"Wir kennen uns seit 2015. Damals war das Sprechen für sie noch sehr schwierig, sie sprach  mehr oder weniger nur Dreiwortsätze. Das Entscheidende dann war, dass das Vertrauen und die Stärkung wieder zu schaffen, einfach mal drauf los zu reden, zu wissen, ich bin wer. Etwas, das jemand ohne Aphasie vielleicht in drei Jahren schafft, dafür braucht jemand mit Aphasie mindestens fünf Jahre Zeit. Und dazu braucht es einen kleinen und individuellen Rahmen. Sich Zeit lassen, um sich Inhalte zu erarbeiten, nicht unter Druck zu kommen, ist besonders wichtig. Dabei nicht zu unterschätzen ist auch die, ich nenne es mal Co-Therapie durch die Mit-Rehabilitanten hier im Haus in der Gruppe. Alle haben sich gegenseitig gestärkt."

Michael Stäbler, Psychologe und Psychotherapeut, Hegau-Jugendwerk Gailingen

Aphasie: Alltag und Autofahren

Aphasie: Nach seinem Schlaganfall macht Markus Schedlbauer einen Fahreignungstest.

Markus Schedelbauer ist verheiratet und Vater zweier Töchter. Der sportliche Lagerlogistiker war Anfang vierzig, als er vor knapp zwei Jahren einen Schlaganfall erlitt. Aber er hatte Glück, die Rettung erfolgte schnell. Eine Lähmung konnte verhindert werden, körperlich ist er heute wieder fit, aber auch bei ihm blieb eine Aphasie zurück. Markus Schedlbauer selbst ist hoch motiviert, hat neben anderen Therapien mehrmals die Woche Logopädie und lernt selbst viel zu Hause.

Aphasie: Wann ist Autofahren möglich?

Da er auf dem Land lebt, ist er privat und beruflich auf das Auto angewiesen. Nach seinem Schlaganfall durfte er, wie alle Patienten, erst einmal nicht mehr Autofahren. Inzwischen hat er die medizinischen Untersuchungen für die Fahreignung in der Asklepios Klinik Schaufling erfolgreich absolviert, ein Prozess mit mehreren Untersuchungen, die interdisziplinär durchgeführt werden. Ein wichtiger Schritt zurück in ein normales Alltagsleben.

"Eine Aphasie ist nicht von vornherein ein Ausschlusskriterium für die Fahreignung. Aber wichtig ist, dass bestimmte Voraussetzungen für die Fahreignung, wie auch bei anderen Patienten nach einem Schlaganfall, gegeben sind.

Ganz wichtig sind eine ausreichende Konzentration, eine entsprechend rasche Reaktion, eine gute Auffassung von Verkehrssituationen. Das Sehen muss intakt sein, es darf kein Gesichtsfeldausfall vorliegen. Und natürlich geht es auch um die körperlichen Voraussetzungen.

Tatsächlich muss man im Einzelfall genau hinschauen und prüfen, wie ist die Gesamtkonstellation von vorhandenen, weiterhin verfügbaren Ressourcen. Man kann außerdem davon ausgehen, dass bei sehr schweren Aphasien die Fahreignung kritisch, problematisch und vermutlich häufig nicht mehr gegeben ist, weil darüber hinaus dann auch bei der Auffassung Schwierigkeiten auftreten können, dass zum Beispiel Verkehrszeichen nicht mehr in ihre Bedeutung sicher erkannt werden.

Viele Patienten drängen darauf, sehr schnell wieder Auto zu fahren. Da müssen wir häufig bremsen. Es braucht Zeit, dass das Gehirn sich entsprechend regeneriert. Aber es besteht die Möglichkeit, dass Patienten die Fahreignungsprüfung, wenn sie noch nicht soweit sind, zu einem späteren Zeitpunkt nochmals wiederholen."

Wolfgang Kühne, Neuropsychologe, Asklepios Klinik Schaufling

Aphasie, Beruf und das Heidelberger Modell

Seinen Beruf als Lagerlogistiker kann Markus Schedlbauer bisher nicht mehr ausüben. Sein Arbeitgeber hält seinen Arbeitsplatz frei und hofft darauf, dass er zurückkommt. Aber noch ist das nicht sicher. Wahrscheinlich ist, dass sich Markus Schedlbauer, wie viele jüngere Aphasiker auch, beruflich neu orientieren muss. Er selbst könnte sich eine Tätigkeit im handwerklichen Bereich vorstellen, bei der das Sprechen keine große Rolle spielt. Aber wo und wann ein Wiedereinstieg möglich ist, weiß er noch nicht.

In der Hochschule Heidelberg wurde speziell zur beruflichen Rehabilitation von Aphasikern das HAM, das Heidelberger Aphasie Modell entwickelt. Gemeinsam mit Therapeuten, Medizinern und Experten kann bei einem mehrwöchigen Aufenthalt ausgelotet werden, welche berufliche Richtung oder Entwicklung für den Einzelnen in Frage kommen. Anschließend besteht die Möglichkeit, eine der Ausbildungen im SRH Berufsförderungswerk Heidelberg zu absolvieren, begleitet durch unterstützende Therapien vor Ort.  

Aphasie Selbsthilfe: Wichtiger Austausch und soziale Kontakte

Von einer Aphasie ist die ganze Familie betroffen.

 Vielen älteren Patienten bleibt dagegen nichts Anderes übrig, als in Rente zu gehen. Gerhard Kießling erlitt vor neun Jahren einen Schlaganfall, kurz nach seinem 60. Geburtstag. Wenige Tage später traten weitere Komplikationen auf, die auch große Teile seines Sprachzentrums zerstörten. Nur eine Notoperation rettete sein Leben. Er und seine Frau Erika sind inzwischen seit einundvierzig Jahren verheiratet. Auch wenn er heute ständig auf Hilfe angewiesen ist, im Gegensatz zu früher nur noch wenig sprechen kann, halten die beiden zusammen. Erika Kießling hat Alltag und Therapien so organisiert, dass sie ihrem Mann seinen größten Wunsch erfüllen kann: weiterhin zu Hause leben zu können.

Aphasie: Freundschaften finden durch Selbsthilfegruppen

Eine Erfahrung, die viele Menschen mit Behinderungen teilen, mussten auch die Kießlings machen: Viele ehemalige Freunde und Bekannte brachen den Kontakt zu ihnen mehr oder weniger ab. Auch deshalb ist für sie die regionale Selbsthilfegruppe Aphasie in Augsburg besonders wichtig. Hier können sie Menschen mit ähnlichen Erfahrungen treffen, sich austauschen und haben vor allem neue Freunde gefunden. Auch wenn sie jetzt ein anderes Leben führen als früher: Familie Kießling denkt nicht daran aufzugeben. Gerhard Kießlings Ziel ist es, wieder Gehen und auch mehr Sprechen zu lernen. Und vor allem wollen Erika und Gerhard Kießling ihr Leben weiter gemeinsam verbringen.


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