Matthias Nawrat Die vielen Tode unseres Opas Jurek
Der in Polen geborene und in Bamberg aufgewachsene Matthias Nawrat widmet sich in seinem neuesten Roman seiner polnischen Familiengeschichte. Trotz des ernsten Themas ist das Buch ein wahrer Schelmenroman geworden.
Wie formt man aus der eigenen Familiengeschichte einen literarischen Stoff? Wie stellt man die exemplarischen Erfahrungen einzelner Familienmitglieder dar, die die deutsche Besatzung in Polen, das Konzentrationslager Auschwitz und den real-sozialistischen Zwangsstaat erlebt haben? Der in Polen geborene und in Bamberg aufgewachsene Autor Matthias Nawrat hat darauf eine ganz eigene und originelle Antwort gefunden: mit den Mitteln des Schelmenromans.
"Ich habe mich immer gefragt, als ich über diese Themen wie den Zweiten Weltkrieg und die polnisch-kommunistische Diktatur nachdachte, wie ich das beschreiben soll. Und als ich mit meinen Großeltern darüber sprach und sie mir davon erzählten, war ich immer in einem moralischen Dilemma. Ich wusste nie, was ist von dem, was sie erzählen, tatsächlich passiert. Und zwar im Sinne von: Was ist nicht schon in den kollektiven Erzählungen über Auschwitz und den Weltkrieg so verformt, dass ich sicher sagen kann, es ist so passiert. Vor allem, weil einer meiner Opas auch so ein bisschen zwielichtig war. Er hat nämlich später im Kommunismus Karriere gemacht, und man wusste nie genau, wie er das geschafft hat."
Autor Matthias Nawrat
Autoren-Interview
In einem Schelmenroman rettet sich ein erzählender, bauernschlauer Held immer wieder aus brenzligen Situationen, die ihm die Zeitläufte aufzwingen. In diesem Sinne hat Matthias Nawrat keinen klassischen Schelmenroman geschrieben, sondern einen mit doppeltem Boden. Denn nicht Großvater und Großmutter, Onkel und Tante, Vater und Mutter erzählen von den aufgehübschten Abenteuern ihres Lebens, sondern die beiden Enkelkinder geben diese Geschichten mit naivem Blick wieder. Etwa wenn von Großvater Jureks Erfahrungen im KZ Auschwitz die Rede ist.
"Das Leben in Oswiecim, wie die weltberühmte Ortschaft heute heißt, in der unser Opa Jurek von diesem Tag an viele Monate lang Arbeiten ausüben musste, kann man sich heute kaum noch vorstellen. (…) Angefangen bei den Missständen im Zusammenhang mit den sanitären Einrichtungen, die sich direkt in den jeweiligen Schlafräumen befanden und eigentlich nur aus einem einzigen Blecheimer bestanden, der für einen restlos überfüllten Raum viel zu klein war, über das stundenlange Herumstehen in Reih und Glied auf dem Platz vor den Unterbringungsräumlichkeiten in der prallen Sonne oder im strömenden Regen bis hin zu den eher unangenehmen Verhaltensweisen einiger höher gestellter Mitarbeiter, die offensichtlich der Ansicht waren, besser als andere zu wissen, wie man zu arbeiten habe. Diese höher gestellten Mitarbeiter hatten beim Aufbau der zusätzlichen Unterbringungsanlagen stets einen besserwisserischen Spruch auf den Lippen und wussten diesen auch nicht selten mit einer gewissen körperlichen Präsenz und sogar mit Hilfe stockartiger Utensilien aller Art zu untermalen."
Textzitat aus 'Die vielen Tode unseres Opas Jurek'
"Man kann es sich eigentlich nicht vorstellen, wie es gewesen ist. Selbst, wenn ein Schriftsteller behauptet, das ist die Figur, die es erlebt, und wir dieses Gefühl haben, wie schrecklich das ist, ist das Illusion. Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man nicht dort gewesen ist. Ich kann mir das auch nicht vorstellen. Das ist zwar unproblematisch, wenn ich über moralisch nicht so verwerfliche Dinge schreibe. Aber wenn ich über meinen eigenen Großvater schreibe, der tatsächlich in Auschwitz war und es erlebt hat, muss ich mich fragen: Wie kann ich darüber schreiben. Ich konnte es nur, indem ich nicht darüber geschrieben habe, was er dort erlebt hat, sondern was er darüber erzählt hat, was er da erlebt hat."
Autor Matthias Nawrat
Info & Bewertung
Matthias Nawrat: Die vielen Tode unseres Opas Jurek, Reinbek 2015, Rowohlt Verlag, 414 Seiten, 22,95 Euro, ISBN: 978-3-498-04631-6
Ironie und Optimismus als Überlebensstrategie sind verbreitet in dieser Familie. Nur, dass die naiv-kindlichen Erzähler diese Ironie überhaupt nicht verstehen und völlig unreflektiert wiedergeben. Dadurch wirken die Geschichten um die Auseinandersetzungen mit der faschistischen und kommunistischen Diktatur skurril und bizar. Etwa wenn der bergsteigbegeisterte Vater einen erfolgreichen Laden für Bergausrüstungen aufzieht, damit bei den planwirtschaftlichen Behörden aneckt und in einer haarsträubenden Aktion die Fassade des Palastes der Republik erklimmt, um am Ende mit General Jaruzelski zu Abend zu speisen. Oder wenn der einen Supermarkt leitende Großvater statt Lebensmittel zu verkaufen, plötzlich Husarenharnische an den Mann bringen muss. Matthias Nawrat erzählt diese grotesk-komischen Geschichten mit einem Humor, bei dem einem das Lachen oft im Halse steckenbleibt.
"Man kann meiner Meinung nach nicht mit Humor schreiben, wenn man es nicht ernst meint. Leerlaufhumor funktioniert für mich persönlich nicht. Da kann ich höchstens ganz kurz drüber lachen. Aber guter Humor bleibt einem entweder im Hals stecken oder was einen nachdenken lässt. Und wenn man sich diese Theorie von Freud über Humor anschaut, der sagt, dass da bestimmte Triebe kanalisiert werden und sich im Wirtz entladen, dann ist da etwas dran. Aggression, Wut Verzweiflung - Humor kann dafür ein Ventil sein. Und nur so funktioniert Humor meiner Meinung nach."
Autor Matthias Nawrat
Matthias Nawrat holt ein Stück unbekanntes Polen in die deutsche Literatur. Bemerkenswert ist gleichermaßen, was und wie da erzählt wird. Sein Roman "Die vielen Tode unseres Opas Jurek" ist ebenso unterhaltsam wie tiefschürfend und abgründig.
Zur Person: Matthias Nawrat
Mit zehn Jahren reiste der 1979 im polnischen Oppeln geborene Matthias Nawrat mit seinen Eltern nach Deutschland aus. Die Familie zog nach Bamberg, wo Matthias Nawrat aufwuchs. Obwohl der Zehnjährige anfangs nur Polnisch und kaum ein Wort Deutsch sprach, wurde aus ihm ein deutschsprachiger Journalist und Autor. Drei Romane hat Matthias Nawrat bislang auf Deutsch veröffentlicht, von denen einer sogar für den Deutschen Buchpreis nominiert war. In seinem bei Rowohlt erschienenem Roman "Die vielen Tode unseres Opas Jurek" widmet er sich nun seiner polnischen Familiengeschichte während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg und der sozialistischen Diktatur.
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