Ursula März Tante Martl
Im Roman "Tante Martl" von Ursula März findet sich der Leser immer wieder in der mittelfränkischen Kleinstadt Herzogenaurach wieder. Ursula März - der Name ist nicht ganz unbekannt. Sie ist eine bundesweit renommierte Kulturjournalistin und Literaturkritikerin. Sie ist Jahrgang 1957, wurde in Herzogenaurach geboren und ist dort aufgewachsen.
Diese Tante Martl hat es wirklich gegeben. Vielleicht erinnert sich der ein oder andere beim Lesen ja an so eine Tante in der eigenen Familie. Der Autorin Ursula März jedenfalls gelingt mit der Lebensgeschichte ihrer Tante, fast nebenbei, das Portrait einer ganzen Generation. Für sie war Tante Martl etwas Besonderes, denn sie war ihre Patentante - und die spielte nicht nur in der Kindheit und Jugend der Autorin eine wichtige Rolle.
"Patentanten hatten eine wichtige seelische Rolle: Sie waren so ein bisschen der Engel, der über einen gewacht hat. Sie kam zu meiner Einschulung, hat mir eine große Tüte mit Süßigkeiten geschenkt – die sie nicht gerne gekauft hat – sie hasste Süßigkeiten, sie war bei meiner Kommunion."
Ursula März, Autorin
Ursula März wuchs zusammen mit ihrem Bruder in Herzogenaurach auf und ging später in Erlangen aufs Gymnasium. Ihre Tante Martl lebte zwar hunderte von Kilometern entfernt in der Pfalz, besuchte ihre Patentochter aber regelmäßig in Mittelfranken.
"Tante Martl war oft hier, aber sie mochte den fränkischen Dialekt nicht so besonders. Hat aber selbst stark Dialekt gesprochen, aber Pfälzischen und mochte den Fränkischen nicht."
Ursula März, Autorin
Eine Tante mit Geheimnissen
Von der Geburt bis zur Beerdigung erzählt Ursula März das Leben von Tante Martl. Und das erscheint auf den ersten Blick alles andere als erzählwürdig oder gar spektakulär, wie gleich auf den ersten Seiten des Romans zu lesen ist.
Geboren 1925 war sie nicht der heiß ersehnte Sohn, sondern das dritte Mädchen. Schon die Geburt eine riesige Enttäuschung. Und irgendwie erscheint auch alles Weitere, zumindest auf den ersten Blick, wie ein zu kurz gekommenes Leben. Diesen Eindruck hatte selbst Ursula März lange Zeit von ihrer Tante, mit der sie bis zu deren Tod in engem Kontakt stand. Doch mit zunehmender Lebenserfahrung entdeckt die Nichte ganz andere Seiten an dieser Frau, die durchaus auch ihre Geheimnisse hatte – und diese Neueinschätzungen bestärkten sie darin, deren Lebensgeschichte aufzuschreiben. Denn auf der anderen Seite war Tante Martl in den 1950er-Jahren das, was man heute emanzipiert nennt.
"Notgedrungen. Sie hatte einen Beruf. Sie war Volksschullehrerin. Hatte ein eigenes Gehalt. Das hatte beileibe nicht jede deutsche Hausfrau. Sie hatte einen Führerschein. Sie hatte einen VW-Käfer. Sie ist damit über die Alpen gejuckelt. Sie war eigentlich selbstständig. Aber sie war auch die Tante, die an den anderen Familien so ein bisschen wie ein Attribut dranhing, ohne eine eigene autonome Familie zu haben."
Ursula März, Autorin
Unangenehme Tatsachen in der Familie
Info & Bewertung
Ursula März: Tante Martl, München 2019, Piper-Verlag, 190 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-492-05981-7
Über die eigene Familie zu schreiben, das ist meist nicht einfach. Das heißt noch einmal eintauchen in Erinnerungen, die durchaus auch schmerzhaft sein können. Ursula März beschreibt die Tante, deren Schwestern, eine davon war ihre Mutter, und deren Ehemänner sehr liebevoll, mit viel Feingefühl und Verständnis. Und sie verschweigt auch nicht die eher unangenehmen Tatsachen. Das sei ihr aber nur möglich gewesen, weil niemand mehr aus dieser Generation lebt, so die Autorin.
"Das war für mich nicht nur eine Frage der Ethik, sondern auch der Schreibtechnik. Dass ich sie, wenn jemand leiblich nicht mehr da ist, so vor mich hinrücken konnte, wie Figuren. Also nicht wie Romanfiguren, aber dass ich sie selber so betrachten konnte, und auch mich. Und allein dieses ein bisschen wegrücken und gestalten hat auch etwas sehr Erleichterndes."
Ursula März, Autorin
Eine Familiengeschichte, eine Generationengeschichte, biografische Erinnerungen oder eine Liebeserklärung an die Tante: Der Roman bietet viele verschiedene Lesarten. Vor allem aber zeigt er: Ein leise gelebtes Leben kann tiefere und bedeutender Spuren hinterlassen als viele laut hochgejubelte Erfolgskarrieren.