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Einsamkeit Wenn niemand da ist

Zehn bis 15 Prozent der deutschen Bevölkerung sind wohl dauerhaft von Einsamkeit betroffen. Einsamkeit als subjektiv erlebtes Gefühl ist nicht leicht messbar, die Dunkelziffer dementsprechend hoch. Aber die Coronazeit hat die Brisanz des Themas bestätigt.

Von: Justina Schreiber

Stand: 20.12.2022

Ein alter Mann lehnt an einer Brücke im Park. | Bild: BR/Julia Müller

Chronische Einsamkeit schadet der Gesundheit. Sie macht anfälliger für Erkrankungen wie Depressionen oder Herzkreislaufleiden – wobei die Wirkzusammenhänge komplex sind. Auch gesellschaftliche Faktoren spielen eine Rolle, wenn sich Menschen zunehmend zurückziehen, etwa weil Wirtshäuser schließen und Ortszentren veröden.

Experten:

Yvonne Wilke, Politikwissenschaftlerin beim Kompetenznetz Einsamkeit
Matthias Reinhard, Psychiater an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU München

Isolation macht stumm. Betroffene tun sich schwer, ihr Problem konkret anzusprechen. Wie schnell wird man abgestempelt: selbst schuld! Es braucht eine sensibilisierte Gesellschaft, die ein Bewusstsein für die Not einsamer Menschen entwickelt.

Dem Text liegen Interviews mit der Politikwissenschaftlerin Yvonne Wilke vom Kompetenznetz Einsamkeit sowie mit dem Psychiater Matthias Reinhard von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU München zu Grunde.

Einsamkeit gilt nicht als psychische Störung oder Krankheit, die von Ärzten oder Psychologinnen "behandelt" werden könnte. Trotzdem gerät das Thema jetzt in den medizinischen Fokus, wie der Psychiater Matthias Reinhard erklärt, "weil wir einfach festgestellt haben, dass es ein ganz großes Thema unserer Patienten ist, über das aber kaum gesprochen wird."

Einsamkeit wird auch als "Epidemie im Verborgenen" bezeichnet. Denn Einsamkeit ist ähnlich schambesetzt wie Armut, sie wird als persönliche Schwäche erlebt. Anders als soziale Isolation lässt sich Einsamkeit allerdings nicht mittels der Zahl von Kontakten und Beziehungen messen. Einsamkeit ist ein subjektiv erlebtes Gefühl, das mit Ängsten, Verlorenheitsempfinden oder Traurigkeit einhergehen kann. Im Grunde versteht jeder Mensch, jede Generation, jede Gesellschaft etwas anderes unter Einsamkeit.

So viel aber ist klar: Ein Gefühl des Mangels steht im Vordergrund: etwas oder jemand fehlt. Einsame leiden unter ihrer Situation, im Gegensatz zu Menschen, die ihr (zeitweiliges) Alleinsein genießen. Seit Anfang der 1980er Jahre wird Einsamkeit deshalb gemeinhin als unfreiwilliger, bedrückender Zustand mangelnder Zugehörigkeit und Gemeinschaft definiert.

"Es geht um die Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen. Das bedeutet, dass eine Person, die sich einsam fühlt, sich mehr soziale Beziehungen wünscht, das kann qualitativ sein, also bessere Beziehungen, das kann aber auch quantitativ sein, mehr Beziehungen als sie tatsächlich hat."

Politikwissenschaftlerin Yvonne Wilke vom Kompetenznetz Einsamkeit

Einsame Menschen fallen nicht unbedingt auf. Meistens sprechen sie nicht über ihr Problem. Einsamkeit ist alles andere als cool. Das stille Leid entsteht, weil einen niemand in den Arm nimmt, weil niemand anruft oder zu Besuch kommt. Soll man etwa um Liebe betteln?

Aber es gibt Anzeichen, die Außenstehenden auffallen könnten: sozialer Rückzug, Misstrauen gegenüber anderen Menschen, Schwierigkeiten, andere an sich heranzulassen beziehungsweise sich emotional zu öffnen. Ohne pauschalisieren zu wollen: Wer verklemmt oder gehemmt wirkt, könnte auch einsam sein.

In der Coronazeit haben viele Menschen an sich selbst beobachten können, wie sich der Verlust gemeinschaftlichen Lebens langfristig auf das individuelle Befinden auswirkte. Passivität, Bewegungsmangel und schlechte Selbstfürsorge waren die Folgen. Mutierten in der Quarantänesituation nicht "wir alle" zu mehr oder weniger unleidlichen Muffeln? Die Lust unter Leute zu gehen, schrumpfte offensichtlich. Das ist jedenfalls erwiesen: Zur Einsamkeit gehören Teufelskreisläufe. Kranke sind eher einsam. Einsame werden eher krank, körperlich wie seelisch. Depressive Verstimmungen liegen nahe.

Flucht und Migration oder ein Umzug, kurz: der Verlust der gewohnten heimatlichen Umgebung kann tiefe Einsamkeitsgefühle erzeugen. Die vertrauten BezugspartnerInnen fehlen. Statistisch belegt, gelten zwei Lebensphasen als besonders riskant:

  • Wenn junge Leute aus dem Elternhaus ausziehen, um in einer anderen Stadt eine Ausbildung oder ein Studium zu beginnen. Es entsteht das Gefühl, entwurzelt zu sein.
  • Wenn im Alter Freunde, Partner und Nachbarn wegsterben und sich die eigene Mobilität einschränkt. Wo einst Leben war, scheint jetzt Leere zu herrschen.

Auch kranke oder arme Menschen neigen eher zu Einsamkeitsgefühlen als andere. Die Gründe liegen auf der Hand. Die Teilhabe am sozialen Leben wird durch Faktoren wie Bettlägerigkeit oder Geldmangel erschwert. 

Daneben gibt es die sogenannte "biografische Einsamkeit". Sei es, dass man schon in Kindertagen das Gefühl hatte, nicht willkommen oder sicher gebunden zu sein. Sei es, dass frühe Verlusterfahrungen das Vertrauen in die Welt erschütterten: manche Menschen kennen es nicht anders. Sie sind es gewöhnt, dass niemand sie versteht, dass sie nicht gesehen oder gehört werden. Gemeinschaft erleben zu können, ist auch eine Frage der Übung.

Grundsätzlich ist die Wahrscheinlichkeit für Einsamkeitsgefühle als Folge psychischer Störungen und Erkrankungen deutlich erhöht.

"Ob Depressionen, Angsterkrankungen, aber auch Suchterkrankungen wie Alkoholabhängigkeit oder Schizophrenien: durch die Reihe gibt es hier erhöhte Einsamkeitsniveaus. Einsamkeit ist für die Betroffenen ein wirklich großes Thema. Aber sowohl die Patienten als auch wir Therapeutinnen haben uns diese Tatsache lange Zeit nicht bewusst gemacht."

Psychiater Matthias Reinhard

Gesellschaftliche Entwicklungen tragen dazu bei, dass sich bestimmte Bevölkerungsgruppen heute einsamer fühlen als früher, wobei sich der Unterschied wissenschaftlich kaum messen oder belegen lässt. Fakt ist, dass moderne Lebenskonzepte auf Flexibilität und multioptionales Handeln setzen. Bloß keine lebenslangen Verbindlichkeiten eingehen, lautet eine Prämisse. Die Zahl der Single-Haushalte wächst seit Jahren. Aber die Individualisierung hat eben auch ihre Schattenseiten.

"Einsamkeit erlebe ich als das Fehlen von Gemeinsamkeit. Da spielt sicher mein Werdegang eine Rolle, dass ich nämlich ursprünglich verheiratet war, viele Jahre lang, dass ich in einer Familie mit drei Kindern gelebt habe, was jetzt alles nicht mehr der Fall ist. Jetzt, wenn ich die Haustüre zumache, bin ich allein. Und das macht dieses Gefühl."

Werner P., Single und Rentner

Folgende Faktoren befördern, grob gesagt, die Vereinzelung und Vereinsamung von Menschen:

  • durchschnittlich längere Lebensdauer + Auflösung von Großfamilien + Pflegenotstand
  • Globale Flucht- und Migrationsbewegungen + bürokratische und sprachliche Hürden
  • Leistungsdenken + Arbeitsverdichtung + Beschleunigung
  • Digitalisierung + Verlust örtlicher Infrastrukturen

Alltägliche Prozesse verlagern sich ins Internet. Es gibt kaum noch Telefonzellen oder Briefkästen. In den Bankfilialen werden Kontoauszugsdrucker abgeschafft. Wirtshäuser und kleine Bäckereien schließen. Online-Lieferdienste dagegen boomen. Einst gemütliche Stadtviertel verwandeln sich in überteuerte Zweitwohnungsquartiere. Dörfliche Ortskerne verwaisen, wenn die Kommunen nicht gegensteuern. Die Welt scheint "gefühlt kälter" zu werden.

"Es macht einen Unterschied, ob ich in einem großen Supermarkt einkaufe oder ob ich in den kleinen Lebensmittelladen ums Eck gehe. In den kleinen Läden ist häufig mehr Zeit, um Gespräche zu führen und soziale Kontakte zu knüpfen. In Supermärkten laufen viele Leute täglich durch, die Kassiererinnen kennen mich nicht. Diese Anonymisierung trägt ein Stück weit dazu bei, dass das Einsamkeitsempfinden höher geworden ist."

Yvonne Wilke vom Kompetenznetz Einsamkeit

Chronische Einsamkeit verschlechtert den Gesundheitszustand. Langandauernde Gefühle sozialer Isolation erhöhen die Anfälligkeit für körperliche und seelische Leiden.

Einsamkeit gilt heute als ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall, und zwar in einer Größenordnung, die dem Einfluss des Rauchens entspricht. Besonders auf alte Menschen trifft dies zu. Aber nicht die Einsamkeit an sich macht krank, sondern ihre Folgen. Einsame Personen sind tendenziell weniger aktiv, gehen weniger raus, nehmen weniger an gesellschaftlichen Aktivitäten teil. Menschen kümmern sich offenbar schlechter um sich selbst, wenn ein fürsorgliches Gegenüber fehlt. Die Erforschung der Wirkmechanismen steht erst am Anfang.

"Wir vermuten, dass einsame Menschen insgesamt einen eher ungesünderen Lebensstil haben, dass man zum Beispiel die Einsamkeit auch mit Alkohol versucht, selbst zu therapieren oder mit Schokolade oder anderen Dingen, also sozusagen anderen bekannten Risikofaktoren für zum Beispiel Herzinfarkte."

Dr. Matthias Reinhard, Psychiater und Psychotherapeut

Belegt ist: Die Anzahl von Menschen mit Angst- oder Suchterkrankungen ist unter einsamen Menschen höher als unter nicht-einsamen Personen. Doch was ist die Henne, was das Ei? Was war zuerst da? Wie auch immer: Einsamkeit scheint ein sogenannter "Vulnerabilitätsfaktor" für psychische Probleme zu sein, das heißt: sie produziert eine gewisse Anfälligkeit, insbesondere für Depressionen.

Oder andersherum gesagt: Die Bekämpfung von Einsamkeit kann Erkrankungen verhindern oder zumindest lindern. Vor allem bei Depressionen, aber auch bei Psychosen zeigen sich positive Effekte, "wenn sich die Mitmenschen eben nicht abwenden, weil jemand in der Psychose vielleicht komische Dinge getan hat und sein Umfeld abgeschreckt hat. Wie wirksam das Gefühl ist, trotzdem nicht allein gelassen zu werden, erkennen wir erst heute," sagt der Psychiater Matthias Reinhard.

Die Gefahr von Teufelskreisen lauert auch auf gesellschaftlicher Ebene. Menschen, die in Einsamkeit leben, haben häufig Hemmungen oder wenig Antrieb, sich zu engagieren, weil sie sich ja eh als "außen vor", als nicht zugehörig empfinden. Zwangsläufig spielen ihre Belange keine Rolle.

Demokratie lebt von Teilhabe. Wenn zu viele Menschen unbemerkt in die soziale Isolation abrutschen, hat das auch gesamtgesellschaftliche Folgen. Wer vertritt also die Anliegen der diversen Einsamen, die vielleicht nicht einmal mehr wählen gehen wollen und heimlich massiven Frust schieben? Das ist politischer Zündstoff. Wie kann man die "Abgehängten" wieder ins Boot holen? Das sind heute große, offene Fragen.

Eigene Einsamkeit zu überwinden, ist nur möglich, wenn man die passive Opferrolle aufgibt. Man muss aktiv werden. Anders geht es nicht. Folgende Wege bieten sich an:

  • Die eigene Einsamkeit thematisieren

Das erfordert viel Mut. Aber so bekommt das private Umfeld auch mit, was einen wirklich belastet. So entsteht vielleicht (wieder) ein "echter" Kontakt.

"Wir haben festgestellt, dass relativ viele Menschen gerade ein Engagement als Trittbrett sehen, um aus der Einsamkeit wieder herauszufinden. Sie wenden sich gesellschaftlichen Aktivitäten zu, um ihre isolierte Situation zu überwinden, etwas Sinnstiftendes zu tun und dadurch natürlich auch soziale Kontakte zu knüpfen."

Yvonne Wilke vom Kompetenznetz Einsamkeit

  • Psychotherapeutische Hilfe suchen

Es ist schwer, heutzutage sofort einen Therapieplatz zu bekommen. Zu warten lohnt sich meist. Denn im Gespräch mit professionellen PsychotherapeutInnen lassen sich in geschütztem Rahmen zwischenmenschliche Beziehungen erproben.

"Manchmal ist der Psychotherapeut der erste Mensch, mit dem man sich verbunden fühlt nach einer langen Zeit der Einsamkeit. Das finde ich immer ganz besonders schön, wenn mir einsame Menschen rückmelden: Irgendwie fühle ich mich endlich einmal verstanden und aufgehoben. Wir sind uns dann irgendwie auch nahe in dem Moment."

Matthias Reinhard, Psychiater und Psychotherapeut

  • Soziale Angebote nutzen

Vom Sportverein bis zur Nachbarschaftshilfe, von der Volkshochschule bis zur Kirchengemeinde: Es gibt im Grunde viele Institutionen oder Projekte, die Menschen niederschwellig zusammenbringen – ohne, dass es erklärtermaßen darum geht, Einsamkeit zu bekämpfen. Einsame werden eher selten gezielt angesprochen. Sie sollen sich nicht outen müssen.

"Aber es gibt zum Beispiel den Verein 'Wege aus der Einsamkeit', wo ganz klar ist, wenn ich mich an diesen Verein wende, dann bin ich einsam. Manche Menschen fühlen sich damit wohler, wenn die Karten gleich auf dem Tisch liegen."

Yvonne Wilke vom Kompetenznetz Einsamkeit

Angebote wie Sozialberatungen oder Kaffeetrinken im Quartiersmanagement stehen allen offen. Oft bieten Einrichtungen oder Initiativen auch gruppenspezifische Kurse und Treffpunkte an, etwa für junge Leute oder SeniorInnen. Für Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrungen dagegen fehlt es noch an flächendeckenden Angeboten.

Einsamkeit steht heute auf wissenschaftlichen und politischen Agenden ziemlich weit oben. Das ist gut so. Denn wenn die Notlagen sozial isolierter Menschen im öffentlichen Bewusstsein präsent sind, wird der unangenehme Zustand nicht mehr als Sonderfall, sondern als "normal" wahrgenommen. Gesellschaftliche Akzeptanz kann Schamgefühle mindern und es einsamen Menschen leichter machen, Hilfe zu suchen.

Deshalb geht es darum, die Allgemeinheit für das Thema Einsamkeit zu sensibilisieren. Eine Gesellschaft, die das Problem "auf dem Schirm hat", gewinnt an Menschenfreundlichkeit. Alltägliche Kontaktpersonen wie Ärzte oder auch Nachbarn können kleine Schritte tun, indem sie vorsichtig nach der Gefühlslage fragen oder ob jemand vielleicht Tipps, Adressen oder anderweitige Unterstützung braucht.

Buchtipp:

Christine Brähler: Neue Wege aus der Einsamkeit. Mit Selbstmitgefühl zu mehr Verbundenheit finden - Praktische Übungen für aktive Selbsthilfe - Ratgeber für Betroffene und Angehörige.
Hardcover, 18 Euro.
Irisiana Verlag 2020

Buchtipp:

Noreena Hertz: Das Zeitalter der Einsamkeit. Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt.
Hardcover, 22 Euro.
Harper Collins Verlag 2021