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Neuerscheinungen der Woche Neue Platten von John Cale, Hermanos Gutiérrez, Isobell Campbell, David Bowie u. a.

Unsere Neuerscheinungen der Woche im Überblick. Mit Isobell Campbell, John Cale, Kneecap, Hermanos Gutiérrez, Bored At My Grandma’s House, Mike Lindsay, David Bowie, The Decemberists und Mary Ocher

Von: Angie Portmann

Stand: 13.06.2024 16:00 Uhr

David Bowie | Bild: Parlophone

Isobel Campbell - Bow To Love

Von Leeds nach Glasgow. Dort begann vor knapp drei Jahrzehnten die Karriere von Isobel Campbell. Die Schottin war zuerst mit den Indie-Lieblingen Belle & Sebastian unterwegs, veröffentlichte ab 1999 aber auch solo Musik, Dreampop u.a. als Gentle Waves bzw. später dunkle Americana, im Duett mit dem leider schon verstorbenen Mark Lanegan.
„Keep calm and carry on“ heißt ein Song auf „Bow to love“ und ist Isobel Campbells Kommentar zum Brexit, der doch für so viel Unruhe und Hass in der britischen Bevölkerung gesorgt hatte. „Keep calm and carry on“ ist in gewisser Weise aber auch das Mantra des ganzen Albums. Denn hier wird zwar so manch unangenehmes Thema verhandelt, toxische Männlichkeit z.B. („Everything falls apart“) oder auch die frustrierenden Aspekte von Künstlischer Intelligenz („4316“). Und trotzdem zieht sich eine sehr beruhigende, hoffnungsvolle Stimmung durchs ganze Album. „I'll make a brand new start you son of a bitch” oder auch “We are beautiful, unavoidable, undestroyable”, singt Isobell Campbell trotzig ohne dabei eine Sekunde bitter zu klingen. Das mag an ihrer sanften Stimme liegen, mit der sie ganz nah ran geht ans Mikro, aber auch an den Songs selbst. Größtenteils sehr ruhigen, tiefenentspannten Folk-Songs, von Campbell liebevoll arrangiert, mit verträumten Streichern und einem Hauch Elektronik. So angenehm unaufgeregt wie eine Stunde Hatha-Yoga („Om shanti Om“). (7,6 von 10 Punkten)

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Isobel Campbell - Dopamine (Official Audio) | Bild: Isobel Campbell (via YouTube)

Isobel Campbell - Dopamine (Official Audio)

John Cale - POPtical Illusion

Zusammen mit Lou Reed hat John Cale eine der wichtigsten Rock-Bands schlechthin gegründet: The Velvet Underground. Das war 1965. Bereits 1968 hat er die Band verlassen, die beiden Super-Egos Reed und Cale hatten, wie es immer so schön heißt, unüberbrückbare Differenzen. Seitdem hat Cale zahllose Solo-Alben veröffentlicht, die mal mehr Avantgarde, mal mehr Mainstream waren, mal Minimal, mal Hardcore. Hat legendäre Platten wie die von den Stooges oder Patti Smith produziert und hat sich sogar kurz mal zu einer Velvet Underground Reunion hinreißen lassen... Mit „POPtical Illusion“ veröffentlicht der mittlerweile 82-jährige John Cale jetzt schon das zweite Art-Pop-Album im Laufe eines Jahres. Denn während des Lockdowns hatte er einen regelrechten Kreativschub…

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John Cale - Shark-Shark (Official Video) | Bild: Domino Recording Co. (via YouTube)

John Cale - Shark-Shark (Official Video)

"Most of the writing happened during the lockdown, so I just got on with writing songs, and it turned out that I was ready for it. I wrote a lot of songs in a short period, and it was a benefit. I mean, I just had a lot of songs that were just sitting around in fragments, and now I have a lot of them that are just incomplete or complete and ready to go on another album or whatever. I mean, it's a good way to work."

Cale, John

Die meisten Songs, insgesamt über 80, hat John Cale also während des Lockdowns geschrieben. Aus Fragmenten wurden komplette Songs, genug, um daraus auch noch ein weiteres Album machen zu können.

Hatte der eher experimentelle Vorgänger „Mercy“ noch ein irres Gaststar-Aufgebot zu bieten, von Weyes Blood über Animal Collective bis zu Actress, hören wir auf seinem jüngsten Werk nur den Meister himself, seine erhaben getragene Stimme, Synthesizer, Samples und die vielen von ihm gespielten Instrumente. Unterstützt wurde er dabei nur von seiner musikalischen Partnerin Nita Scott. Und erstaunlicherweise inspiriert vom Hip Hop, so John Cale.

"You know, I was really into a lot of songs by (J) Dilla and Earl Sweatshirt and Vince Staples and Tyler, the Creator. I mean, I enjoyed how they proceeded with their creations, how they presented them."

Cale, John

Inspiriert von J Dilla, Earl Sweatshirt, Vince Staples und Tyler the Creator. Die Art, wie sie ihre Songs präsentieren, die hat es John Cale angetan. Dabei weist der Titel des Albums „Poptical Illusion“ eigentlich in eine ganz andere Richtung, nämlich in die des Pops. Und tatsächlich gibt sich der Avantgarde-Musiker Cale hier ausgesprochen eingängig. Songs wie „Davies and Whales“ oder „How we see the light“ haben zwingende Pop-Hooks, die sich verdammt schnell festhaken. Aber auch ruhigere Stücke wie z.B. das alles andere als wütend klingende „I‘m angry“ haben eine gewisse Sogwirkung. Sind keine klassischen Balladen, aber anrührend sperrig. (7,9 von 10 Punkten)

Kneecap – Fine art

Kneecap, das ist ein HipHop-Trio aus dem katholisch geprägten Westen von Belfast, das nicht nur auf englisch, sondern auch auf gälisch rappt. Was erstaunlicherweise nicht nur in Irland gut ankommt, sondern auch in England und sogar in den USA sind die Konzerte des Trios ausverkauft. Der Name Kneecap kommt übrigens vom sogenannten Kneecapping, einer von nordirischen Paramilitärs benutzen Bestrafungsmethode, bei der den Opfern in die Knie geschossen wird. Weit verbreitet während des Nordirlandkonflikts von 1969 bis 1998. Aber auch in den Jahren danach vermeldet die Polizei in Belfast noch Fälle von Kneecapping. Betroffen sind hier meist junge Männer unter 30. Trotzdem betont das Trio immer wieder, ihr Name sei nicht gewaltverherrlichend. Es gehe ihnen in erster Linie um die Musik. Und das ist bei Kneecap super ausgebuffter Hip Hop. Mal tough und wütend wie bei Slowthai, mal geniales Storytelling wie von Mike Skinner von The Streets. Dazu Beats zwischen House, Grime und Punk. Apropos Punk, auch Grian Chatten von den Fontaines D.C. ist als Featuregast mit dabei. Absolut catchy ihr gemeinsames „Better way to live“. In den Lyrics von Kneecap spiegelt sich ihre anti-britische Haltung wieder, das generelle Dilemma als Jugendlicher in Nordirland aufzuwachsen, in einer Gegend, in der die Waffen zwar mehr oder weniger schweigen, der Konflikt zwischen Republikanern und Unionisten aber immer noch schwelt. Davon abgesehen geht es aber auch um das ganz alltägliche Leben von Kneecap, um Alkohol (das Album spielt in einem fiktiven Pub namens „Rutz“), um Drogen, Liebe in Zeiten von Tinder usw.
Wer mehr über die Anfänge von Kneecap, überhaupt über die Jugend in Nordirland erfahren möchte, dem sei der gleichnamige, semifiktionale Dokumentarfilm empfohlen. Ein Film, der im Januar beim Sundance Film Festival Premiere hatte und im August in Irland in die Kinos kommt. Und hoffentlich dann auch bald bei uns zu sehen ist. Wie das Album ist auch der Film auf englisch und irisch. Mit großen irischen SchauspielerInnen wie z.B. Michael Fassbender - und natürlich mit unseren drei Jungs von Kneecap, die auch erstaunlich gute Schauspieler sind. (8,2 von 10 Punkten)

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KNEECAP - FINE ART (OFFICIAL VISUALIZER) | Bild: KNEECAP (via YouTube)

KNEECAP - FINE ART (OFFICIAL VISUALIZER)

Hermanos Gutiérrez - Sonido Cósmico

Auch wenn die beiden Schweizer Brüder Estevan und Alejandro Gutiérrez ihr neues Album „Sonido cósmico“ genannt haben, „kosmischer Klang“, und damit nach eigener Aussage die Weite des Weltraums beschwören wollen, lassen ihre Instrumentalstücke doch sofort wieder einen Cowboy vor meinem inneren Auge auftauchen. Langsam und sehr lässig, ja vielleicht sogar etwas bekifft, reitet er durch die menschenleere Prärie. Begleitet von den sich eng umschlingenden Gitarren der Hermanos Gutiérrez und sonnig-sanften Latin-Rhythmen. Mit „El Bueno y el Malo“, dem ebenfalls von Dan Auerbach von den Black Keys produzierten Vorgängeralbum, wurden die beiden Schweizer vor allem in Americana-Kreisen, aber auch in der Latin-Gemeinde eine Instanz.  Der Rolling Stone lobte sie damals für ihre „halluzinogene Energie“ und NPR feierte ihr Album 2022 als eines DER Latin-Alben des Jahres. „Sonido cósmico“ setzt da jetzt noch eins drauf, mit Streichern, Schlagzeug und Orgel. Und Titeln wie „Lacrimas negras“, schwarze Tränen, „El fantasma“, das Gespenst und „Misterio verde“, grünes Geheimnis. Großes Spaghetti-Western-Kino, wunderbar cheesy und sehr sehr atmosphärisch. (7,8 von 10 Punkten)

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Hermanos Gutiérrez - "Barrio Hustle" [Official Music Video] | Bild: Easy Eye Sound (via YouTube)

Hermanos Gutiérrez - "Barrio Hustle" [Official Music Video]

Bored At My Grandmas House

Und hier ein Tipp für alle Fans von Girl in Red oder Boygenius: Bored at my grandma’s house. Dahinter verbirgt sich Amber Strawbridge aus Leeds und ihr sanfter Indie-Pop. Angefangen hat alles vor sieben Jahren im Schlafzimmer der heute 22jährigen Britin. Damals hat sie ihre Songs noch mit dem Handy aufgenommen. Mittlerweile hat die Autodidaktin etwas aufgerüstet, was das Equipment angeht. Hat eine EP veröffentlicht und u.a. auch schon beim Glastonbury Festival gespielt. Auf ihrem Debütalbum “Show & Tell” finden sich elf feine Shoegaze-infizierte Pop Perlen. Es geht um Verbindungen, Beziehungen im weitesten Sinne. Um die Beziehung zu mir selbst, zur Welt, zu meinen Liebsten, so Amber Strawbridge … „A guidebook to understanding my brain“. Wer möchte das nicht gern: die eigenen Hemmungen und Selbstzweifel verstehen und überwinden, mit Songs wie „Inhibitions“ oder „Imposter syndrome“. Dazu streift die Britin auch noch so hippe Themen wie queer love und mental health. Alles wunderschön verpackt in zeitlosen Dream Pop. (7,8 von 10 Punkten)

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Bored At My Grandmas House - How Do You See The World? (Official Music Video) | Bild: BamghVEVO (via YouTube)

Bored At My Grandmas House - How Do You See The World? (Official Music Video)

Mike Lindsay - Supershapes Volume 1

Als Mastermind von Tunng war Mike Lindsay Mitbegründer des Folktronica-Genres. Diesem Mix aus akustischer und elektronischer Musik, aus introvertiertem Folk und experimentellen Frickelsound. Und Lindsay hat schon immer gern mit anderen Stimmen zusammengearbeitet, bei Tunng war und ist das Sam Genders. Zusammen mit der britischen Singer/Songwriterin Laura Marling ist er Lump. Und jetzt, als Solo-Künstler, hat sich der Londoner für sein Debüt „Supershapes Volume 1“ mit Anna B Savage zusammengetan. Neben Savage spielen aber noch ganz andere Dinge eine sehr wichtige Rolle auf diesem Album. Nämlich Tische, Kochbücher, Bildbände, überhaupt Alltagsgegenstände jeglicher Art, mit deren Hilfe Lindsay seine glitchy Electronica, seine organischen Soundscapes gebastelt hat. Wunderbar verspielt und leichtfüßig, ja sogar funky klingt dieses Soundexperiment… wozu ein wenig cosy Cocooning doch gut sein kann. (8 von 10 Punkten)

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Mike Lindsay - pretender to surrender (Official Music Video) | Bild: mikelindsayVEVO (via YouTube)

Mike Lindsay - pretender to surrender (Official Music Video)

David Bowie – Rock’n’Roll Star!

Vor gut zwei Jahren hat Warner die Verlagsrechte an allen Songs von David Bowie gekauft. Angeblich hat der Konzern dafür mehr als 250 Millionen Dollar an die Bowie Erben gezahlt. Das Geld muss natürlich wieder reingewirtschaftet werden. Und auch wenn die Tonträgerverkäufe schon lange nicht mehr das sind, was sie mal waren, Box-Sets von ikonischen Künstlern wie David Bowie gehen immer noch.

Das Box-Set „Rock’n’Roll Star!“ dokumentiert David Bowies Weg zu Ziggy Stardust, dem vermutlich berühmtesten Alien der Popgeschichte. Über fünf Alben hinweg zieht sich diese Transformation. Angefangen bei ganz frühen Demos, Proben-Mitschnitten, Radiosessions und Live-Auftritten bis zu Outtakes und alternativen Versionen von den Aufnahmen zum Album „The Rise and Fall of Ziggy Stardust“. Mit dabei auch 29 bisher unveröffentlichte, neu abgemischte Tracks. Das mag etwas aufgeblasen und für Nicht-Bowie-Fans völlig überflüssig klingen, hat aber einen wie ich finde nicht unerheblichen Reiz. Denn auch wenn man die meisten Songs schon sehr sehr gut kennt, hat es doch etwas sehr intimes, z.B. mit Bowie im Proberaum zu sitzen und zu hören, wie er plötzlich einen Song abbricht, um kurz darauf mit irritierend sanfter Stimme sehr explizite Aufnahmeanweisungen zu geben. Und wie er diese Songs, diese Kunstfigur des Ziggy Stardust immer weiter perfektioniert, um sie dann ein Jahr später unerwartet abrupt ins All zu schicken. (8,1 von 10 Punkten)

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Lady Stardust (Alternative Version - Take 1) | Bild: David Bowie - Topic (via YouTube)

Lady Stardust (Alternative Version - Take 1)

The Decemberists - As It Ever Was, So It Will Be Again

Auf ihrem letzten, eher durchwachsenen Album „I’ll be your girl“ haben The Decemberists noch mit Synth-Pop und Glam-Rock experimentiert, jetzt machen sie wieder, was sie bekanntermaßen besonders gut können: mit tieftraurigem bis beschwingten Folkrock die Welt retten. Back to the roots. „As it ever was, so it will be again“ lautet dann auch der Titel des Albums. Und auch wenn hier mal Mariachi-Bläser auftauchen oder ein Prog-Rock-Gewitter niedergeht, der sehr empathische Folkrock der Decemberists aus Portland bleibt was er schon immer war: supersolide und verlässlich. (7,5 von 10 Punkten)

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Oh No! | Bild: The Decemberists - Topic (via YouTube)

Oh No!

Mary Ocher - Your guide to revolution

Mary Ocher stammt aus Russland, ist in Israel aufgewachsen und lebt seit 2007 in Berlin. Ihr siebtes Album „Your guide to revolution“ klingt experimentell und exzentrisch, hat aber auch durchaus Humor. Z.B. wenn sie uns in einem kurzen, gepitchten Snippet die Bedeutung des “Allheilmittels“ Autotune erklärt: „If you feel your life is a little OUT OF tune, it will tune your life, it will make it so much better“. Mary Ocher ist aber auch bekannt als eine politische Künstlerin. Im Video zu dem Song „Sympathize“ sieht man sie z.B. in einem gelben Schlauchboot auf offenem Meer treibend. Menschen auf einer total zugemüllten Mini-Insel beobachten sie über ihre Handys, später kommen noch zwei auf einem Tanker dazu. Als ihr Boot von einem Feuer eingeschlossen wird, bleiben alle völlig gleichgültig. Vermutlich eine Anspielung auf die Situation im europäischen Mittelmeer. Musikalisch pendelt das Album zwischen theatralischem Synth-Pop, Cumbia inspirierten Grooves und kosmischen Krautrock. Zu den Gästen auf dem Album gehören – neben ihren Langzeit-Kollaborateuren Your Government - die Harfenistin Serafina Steer, die Songwriterin Nina Hynes und die Geiger Yukari Aotani und Anselm Holm. „Your guide to revolution“ erscheint auf Mary Ochers eigenem Label Underground Institute – ist sie auf Tour bringt sie ihre Veröffentlichungen höchstpersönlich in die Plattenläden. (7,3 von 10 Punkten)

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Mary Ocher - The Rubaiyat Medley (feat. Your Government) | Bild: Mary Ocher (via YouTube)

Mary Ocher - The Rubaiyat Medley (feat. Your Government)