Das Thema Ritters Kunst und Tugend
Ein beherrschender Aspekt der kollektiven Selbstfindung ist die Zügelung öffentlicher und privater Gewalt. Die an vorbildlichen und abschreckenden Beispielen inszenierte Zähmung der Affekte etabliert ein Ideal der Selbstbeherrschung, ohne die das enge Zusammenleben am Hof unmöglich wäre.
Einzelkämpfer und Gemeinschaftswesen - Alle Emotionen im Griff
Zornesausbrüche, blinde Wut oder ungezügelte Brutalität gelten in diesem Kosmos als unritterlich. Tapferkeit zeigt der Ritter nicht mehr nur im Kampf, sondern auch in der Bändigung seiner Emotionen. Das Versagen der Affektkontrolle gibt den Ritter der Lächerlichkeit preis, schädigt sein Ansehen und löst bedrohliche Konflikte aus.
Minnedienst - Der gebändigte Eros
Auch der Minnedienst und der lyrische Liebesdiskurs streben danach, das Triebleben zu zügeln. Die sexuellen Energien, Lust und Begierde, sollen kanalisiert, reguliert und durch einen domestizierenden Verhaltenskodex gemeinschaftsverträglich gestaltet werden. In einer Welt engster persönlicher Abhängigkeiten, in der alle aufeinander angewiesen sind, haben amouröses Freibeutertum, Rücksichtslosigkeit, Ausschweifung und jeglicher Überschwang keinen Platz. In allem gilt es, das richtige Maß, die rehte mâze zu finden und vollkommene Selbstbeherrschung (zuht) zu wahren finden. Nur zuht und mâze können verhindern, dass persönliches Ruhm- und Ehrstreben (êre und prîs) oder Zornesausbrüche den nötigen Zusammenhalt sprengen.
Treue und Beständigkeit - Der Kitt des Lehnssystems
Neben den affektiven und kulturellen Belangen rücken Romane wie "Erec", "Iwein" oder "Parzival" auch die politische und soziale Lebenswirklichkeit des Feudalsystems in den Blick. Ein Generalthema ist dabei das Spannungsverhältnis zwischen der geschuldeten Treue (triuwe) des Dieners gegen den Herrn und umgekehrt die in gerechter Entlohnung bewiesene Treue des Herrn gegen seine Vasallen und Dienstleute. Sobald eine Seite die (Vertrags-)Treue bricht, gerät das fragile Gleichgewicht unweigerlich aus den Fugen.
Gnade vor Gott und Ruhm auf Erden
Einen dritten, immer wieder durchschrittenen und durchlittenen Themenkreis setzt die Suche nach dem richtigen Verhältnis zwischen Gott und Welt. Wie, so lautet die zentrale Frage, lassen sich ritterlicher Kampf, Tapferkeit und Mut mit der Sicherung des Seelenheils vereinen? Wie kann ein Ritter der Welt und Gott zugleich so dienen, dass er seine reale politische und soziale Existenz mit den Forderungen des Christentums in Einklang bringt? Wie muss sich ein Ritter verhalten, um das Ansehen seiner Standesgenossen zu verdienen ohne die Gnade Gottes einzubüßen? Und schließlich: wie lässt sich unausweichliche Schuld tilgen, was wäscht von der Sünde rein?
'Hövescheit' - Die Summe ritterlicher Tugenden
Zum Inbegriff dieses literarisch in immer neuen Brechungen und Schattierungen entworfenen Spektrums ritterlicher Tugenden und Verhaltensformen wird das Leitbild der "hövescheit", der höfischen Lebensart. Sie bündelt alle sozialen, kulturellen und musischen Kompetenzen, die den idealen Ritter und die ideale Gesellschaft ausmachen. Als Lehr- und Versuchsanstalt wahrer hövescheit ist die Ritterepik letztlich der literarische Schauplatz einer ständischen Selbsterziehung, auf dem die Normen einer neuen Gesellschaftsform entwickelt und diskutiert werden. Und diese Dichtung ist ein Gemeinschaftserlebnis in jeder Hinsicht: Am Hof vorgetragen, formt sie eine Gemeinschaft, die sich in einer eigentümlichen Mischung aus Utopie und Wirklichkeitsreflex zugleich angespornt und gespiegelt findet.
Höhenflug und Bruchlandung - Wie wirklich ist das Ritterideal?
Das hohe Ethos der Ritterdichtung ist eine literarische, hoch artifizielle Fiktion mit Vorbild- und Aufforderungscharakter. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Anspruch und Erfüllung klaffen weit auseinander, der reale Ritter geht nicht auf aventiure (Abenteuerfahrt), er zieht in den Krieg. Wer die Realität des 13. Jahrhunderts sucht, ist mit Chroniken, Fehdebriefen, Gerichtsdokumenten und Berichten über Ausschreitungen und Gewaltausbrüche besser beraten:
"Höfische Kultur blieb letztlich ein intellektuelles Phänomen von hoher Ambivalenz, gezeichnet von der nicht aufhebbaren Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit"
Joachim Ehlers: Die Ritter, S. 56