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#celibacy Ist Enthaltsamkeit die neue Revolution?

Keine Dates. Kein Sex. Keine Ehe. Keine Kinder. Eine südkoreanische Frauenbewegung hat die sozialen Medien erreicht – und ihre Message ist nun in der Lifestyle-Bubble gelandet. Plötzlich feiern alle die sexuelle Enthaltsamkeit. Aber das Aussteigen aus dem Game hat auch seinen Reiz.

Von: Laura Selz

Stand: 04.10.2024

Ist Enthaltsamkeit die neue Revolution? | Bild: Sides Imagery, pexels.com

In den sozialen Medien entwickeln sich immer wieder Trends, die sehr aufschlussreich über unseren Zeitgeist sind. Wir erinnern uns an #thatgirl, die Frau, die alles hinkriegt. Wir erinnern uns an #tradwive, die glückselige Hausfrau, die eine Zeit zelebriert, die es nie gab. Und aktuell nun #celibacy. Enthaltsamkeit. Die Frau, die sich verweigert. Was ist da schon wieder los?

Auch die Boulevardpresse hat das Thema Enthaltsamkeit entdeckt. Lenny Kravitz praktiziert neuerdings Enthaltsamkeit und gibt Interviews darüber, wie reinigend das für die Seele sei. Auch Drew Barrymore lebt im Zölibat, und kann das nur empfehlen. Letztes Jahr hätten die Medien noch getitelt, dass Lenny Kravitz seit neun Jahren Single ist. Nun aber geht die Erzählung anders. Er ist nicht einfach nur Single. Er lebt enthaltsam.

Endlich haben wir neue Worte. Ein neues Narrativ. Heute wird Social Media von Content überflutet, in dem auch Sabine aus Gelsenkirchen ihr Single-Dasein als spirituellen Akt interpretiert. Enthaltsamkeit als Lifestyle.

Was will #celibacy?

Seinen ernsten Ursprung aber hat #celibacy in der südkoreanischen 4-B Bewegung. Eine radikalfeministische Community aus jungen Frauen, die vier Mal nein sagt: Nein zu Dating (Biyeonae), Nein zu Sex mit Männern (Bisekseu), Nein zu Heirat (Bihon) und Nein zu Mutterschaft (Bichulsan).

In Südkorea gehen Feministinnen auf die Straße.

In einem so konservativen Land wie Südkorea ist das ein Akt der Revolution. Südkorea hat weltweit die niedrigste Geburtenrate – und der Staat ist verzweifelt. Seit über 20 Jahren schon sollen diverse Steuergeschenke den Frauen die Ehe schmackhaft machen. Aber es klappt nicht.

Im Durchschnitt erleben 30 Prozent der Frauen in den OECD-Ländern häusliche Gewalt. In Südkorea sind es rund 42 Prozent. Im OECD-Durchschnitt liegt die Gender-Pay-Gap bei 11,6 Prozent. In Südkorea sind es 31 Prozent. Und das obwohl dort mehr junge Frauen höhere Schulabschlüsse haben als die Männer ihrer Altersgruppe. Und nun, wer hätte das gedacht, unterscheiden sich die Geschlechter auch noch in ihren Lebensentwürfen. Dass junge Männer und junge Frauen politisch auseinanderdriften, ist ein weltweiter Trend, der sich aber am stärksten in Südkorea abzeichnet. Bei den Wahlen 2022 wählten 59 Prozent der jungen Männer konservativ, aber nur 34 Prozent der Frauen. Laut Umfragen fühlen sich 70 Prozent der Männer diskriminiert und wünschen sich die gute alte Zeit zurück, als Frauen noch keine Ansprüche hatten.

Südkorea hat weltweit die niedrigste Geburtenrate. Ist daran wirklich der Feminismus schuld?

Dass immer weniger Frauen Ehefrau und Mutter werden wollen, macht dem Staat Angst. Und das bereits seit 20 Jahren. Schuld sei nun – quasi rückwirkend – die Celibacy-Bewegung, die sich 2019 formte, als Antwort auf eine sexistische Gesellschaft, die Frauen auf ihre Reproduktionsorgane reduziert. 

Aber ist die 4-B Bewegung wirklich so groß und imstande, ein ganzes Volk auszurotten? Glauben wir dem ganzen Content auf Tik Tok, so entsteht der Eindruck, keine einzige Frau in Südkorea wolle noch etwas mit Männern zu tun haben. Eine südkoreanische Userin kommentiert aber zum Beispiel, der Geburtenrückgang habe weniger mit Männerhass zu tun als viel mehr mit ökonomischen Gründen: „Lots of my friends still live with their parents because of housing prices.

Wie die sozialen Medien #Enthaltsamkeit feiern

Wie bei allen Zeitgeist-Trends, die über Social Media verbreitet werden, lohnt sich kritische Distanz. Was sich über Hashtags verbreitet, hat oft nicht die gleiche Gewichtung wie im analogen Leben.

Aber, selbst wenn die eigentliche Gruppe dieser Radikalfeministinnen überschaubar ist – mindert das nicht den Wert ihres Anliegens. Und dass ihre Bewegung überhaupt weltweit so einen Anklang findet, reicht aus, um als Phänomen bezeichnet zu werden. Wenn sich Userinnen von den USA über Spanien nach Indien damit identifizieren können und dafür sorgen, dass dieser Hashtag Millionenfach trendet – scheint hier irgendein Nerv getroffen zu sein.

Wie politisch ist das Private in Zeiten von Tik Tok?

Der radikalfeministische Kampf der koreanischen Frauen hat nun aber die Lifestyle-Bubble der sozialen Medien erreicht und trifft dort auf eine Gesellschaft, die, ich nenne es, Label-euphorisch ist.

Nein, Tante Gertrud, ich liege nicht einsam auf dem Sofa herum. Ich mache gerade Revolution!

Die Boulevardpresse feiert Celebrities, die enthaltsam leben.

Unser Drang, alles zu kategorisieren und labeln zu wollen, kommt vermutlich daher, dass wir immer alles bewerten müssen. Dass wir ein Problem haben mit dem "Sein". Wir brauchen Abgrenzung und Einordnung. Es darf kein Chaos herrschen. Wir ordnen ein in "Mauerblümchen" auf der einen Seite und in "Powerfrauen" auf der anderen Seite. Aber eine Frau, die einfach nur "ist"? "Crazy Cat Ladys" – die vielleicht einfach nur ihre Ruhe haben wollen – müssen sich erklären. Und wenn sie es wagen, sich nicht zu bedauern, dann müssen sie es wenigstens politisch verkaufen.

Nein, Tante Gertrud, ich bin nicht einfach nur Single. Ich kämpfe gerade für eine bessere Zukunft.

Ich habe den Eindruck, dass hier das Private nur scheinbar politisiert wird – nämlich mit dem Ziel, endlich wieder ins Private zu kommen. Und seine verdammte Ruhe zu haben. Und so ist #celibacy am Ende vielleicht gar keine Revolution oder ein Angriff auf das Patriarchat. Sondern viel elementarer: Eine Erschöpfung.

Sex-Streik als politisches Mittel?

In der Geschichte der Menschheit gab es immer wieder Frauen, die Enthaltsamkeit als Mittel zum Zweck eingesetzt haben. Und da ist die 4-B-Bewegung natürlich ein gefundenes Fressen für den Feuilleton. Ein griechisches Drama! Wie bei Lysistrata, die im alten Griechenland zum Sex-Streik aufrief, um den Krieg zu beenden. Da verschworen sich die Frauen Spartas und Athens gegen ihre kriegswütigen Männer. Kein Sex mehr – solange die Männer sich nicht im Griff haben.

Sor Juana Inés de la Cruz hatte keinen Bock auf Stress.

Das ist eine nette Analogie, die auf den politischen Charakter des Boykotts anspielt. Aber der Vergleich hinkt. Denn viele Frauen feiern #celibacy nicht als politisches Druckmittel. Sondern als ein Aussteigen aus dem Game.

Ihre Schutzheilige sollte daher diese Person sein: Sor Juana Inés de Cruz. Eine Dichterin des mexikanischen Barocks. Für Frauen gab es im 17. Jahrhundert genau drei Lebensentwürfe: Mutter und Ehefrau, Prostituierte oder Nonne. Und obwohl sie bereits einem Mann versprochen war, wollte Juana Inés unbedingt ins Kloster. Denn dort hatte sie eine Bibliothek, einen Kräutergarten, und ihre Ruhe.