Endlich Hochkultur Die Ärzte gibt es jetzt als Reclam-Heftchen
Die Songtexte der Ärzte gibt es jetzt in der berühmten Klassiker-Ausgabe von Reclam. Damit steht die Berliner Band in einer Reihe mit Dylan und Springsteen. Ist der Kulturkanon bereit für Zeilen wie "Ich bin ein Mann, meine Socken wasch‘ ich irgendwann"?
"Wer es noch einmal Schwarz auf Gelb braucht: Die Ärzte – bereits 'die Beste Band der Welt' – sind jetzt auch ganz offiziell Klassiker im deutschen Kulturkanon." So verkündet es der Reclam Verlag im Oktober 2024. Und der muss es wissen, denn er stellt seit Jahrzehnten diese kleinen gelben Hefte her, die praktisch jeder und jede, die eine deutsche Schule besucht hat, schon einmal in der Hand hatte. Meist allerdings, um wahlweise Goethes "Faust" oder Schillers "Wilhelm Tell" zu lesen. Nun also Die Ärzte. Was sagt uns das über Die Ärzte, den Pop und: Was um Himmels Willen gehört in einen Kulturkanon?
Punks und Ärzte
Ok, fangen wir von vorne an: Die Ärzte sind eine Band aus Berlin. Es gibt sie schon sehr lange, genauer seit 1982. Ihr Song "Geschwisterliebe" steht bis heute als jugendgefährdend auf dem Index und darf noch nicht einmal zitiert werden. Dann sind Bela B und Co. älter geworden und haben Verantwortung übernommen, beispielsweise mit ihrem Engagement gegen rechts. Der Song "Schrei nach Liebe" handelt von Nazis, die sich nach Zärtlichkeit sehnen – unterbrochen von dem Zwischenruf "Arschloch". Ihr Engagement ist bis heute geblieben, klingt aber etwas didaktischer. Zur Europawahl veröffentlichten Bela, Farin und Rod den Song "Demokratie”:
"Und falls du dich jetzt fragst, wie man die Welt
verbessern kann:
Wie wär’s mit wählen gehen?
Dein Kreuz gegen Hakenkreuze, damit fängt es an
dem Hass zu widerstehen”
Pop ist tot
42 Jahre nach Bandgründung liegen nun Ärzte-Songtexte im berühmten 10x15cm-Reclam-Format vor. Hätte man das dem jungen Bela B gesagt, er hätte einen ausgelacht. Niemand dachte damals daran, wie es sein wird, irgendwann einmal 50, 60 oder gar 70 zu werden. Jenseits der 30 war man ja schon tot. Nun ist Pop schon lange im Museum angekommen. Bob Dylan erhielt 2016 den Nobelpreis für Literatur. Und Campino hält Vorlesungen in Düsseldorf und macht daraus ein Buch über "Gebrauchslyrik" – keine Subversion nirgends. Die Revolution findet schon lange woanders statt. Insofern ist eine Kanonisierung des Pop nur logisch: Wir wollen festhalten, verschriftlichen, archivieren – ehe wir und die Ärzte und irgendwann selbst Bob Dylan im Meer der Vergänglichkeit untergehen.
Reclam: Auf den Kulturkanon gesabbert
Der Reclam Verlag jedenfalls betreibt die Einordnung der Ärzte in den deutschen Kulturkanon mit größter Ironie. Schließlich strotzen die Lyrics der Band selbst nur so davon. Zu ernst genommen, würde man sich angreifbar machen, kurzum: Es wäre peinlich. Verlag und Band haben sich 40 Songtexte aus dem Gesamtwerk herausgepickt, neben Hits wie "Männer sind Schweine" Songs wie "Breit". Da heißt es:
"Jetzt bin ich schon fast dreißig und lebe noch immer
Bin auch noch immer der Coolste hier in diesem Zimmer
Ich sabbere ein bisschen und rieche streng
Weil ich seit Jahren hier auf der Couch abhäng’"
Gedruckt und losgelöst von der Musik kann man jetzt keinen Literaturnobelpreis winken sehen. Aber das ist auch gar nicht die Aufgabe dieses Büchleins. Es geht um die Öffnung des altehrwürdigen Verlages in Richtung Pop. Und es geht um die Ironie, die darin liegt, wenn Reclam Die Ärzte veröffentlicht. So wird jeder Songtext mit einer Einordnung garniert: Beim bereits erwähnten "Breit" heißt es: "Das lyrische Ich dieses Lieds betrachtet die Welt, seine Spezies und im Endeffekt sogar sich selbst als Abort, vor dem es zu flüchten gilt." Frei nach dem, was man sich früher bei der Textanalyse in der zwölften Klasse aus den Fingern gesogen hat.
Wie die Zeit vergeht
Einige Texte der Ärzte fallen aus der Zeit. Deshalb spielt die Band beispielsweise auch den Song "Elke" nicht mehr, weil sie ihn heute selbst frauenverachtend findet. Er ist somit auch nicht in dem Buch enthalten. Ins gelbe Heft hat es dagegen "Meine Freunde" geschafft. Der Song über die Diskriminierung von Homosexuellen wirkt aber in seiner Aneinanderreihung von Vorurteilen irgendwie selbst ein bisschen diskriminierend, wenn er vielleicht auch gut gemeint war. Humor wandelt sich eben mit der Zeit, das mussten Die Ärzte – deren Werk praktisch daraus besteht – öfter erleben.
Kulturkanon: Was nun?
Man kann das Ärzte-Reclam-Heft als Klassensatz bestellen. Die Frage ist natürlich, welche Klasse heute Die Ärzte kennt? Da wird Reclam wohl bald Capital Bra oder Apache 207 verlegen müssen. Bob Dylan, Bruce Springsteen und Reinhard Mey gibt es ja schon. Im November erscheint Rio Reiser. Frauen sind vom Kanon ja grundsätzlich ausgeschlossen. Wo kämen wir denn da hin!
(Auf Nachfrage sagte der Reclam Verlag, dass man sich dieses Problems bewusst sei und daran arbeite.)