Feministische Klassiker im Zündfunk Frauen moralisch unterentwickelt? Carol Gilligan kämpfte gegen Sigmund Freud und Co.
Die Frau, dieses unterentwickelte Wesen. Sigmund Freud hatte keine allzu hohe Meinung vom weiblichen Geschlecht. Ein Glück nur, dass die Psychologin Carol Gilligan 1982 "Die andere Stimme" veröffentlichte. Die Schrift läutete einen Paradigmenwechsel in der Wissenschaft ein.
USA, 70er Jahre. Die junge Psychologin Carol Gilligan wird Dozentin an der renommierten Harvard-Universität. Was sie dort vorfindet, ist nicht besonders ermutigend. Die amerikanische Gesellschaft mag im Umbruch sein, doch die Säulenheiligen der Psychologie stehen felsenfest für ein rückständiges Frauen- und Menschenbild. Als da wären: Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, Jean Piaget, Entwicklungspsychologe und Lawrence Kohlberg, Harvard-Professor und Moral-Theoretiker. Alle drei Herren kommen in ihren Schriften zu der Schlussfolgerung, dass Frauen moralisch unterentwickelt seien. Dumm nur, dass Carol Gilligan für Lawrence Kohlberg als Assistentin arbeitet. Doch sie stellt seine Theorien zur moralischen Überlegenheit von Männern früh in Frage und arbeitet an ihrer eigenen Forschung.
Pragmatische Lösungen
Sie analysiert zum Beispiel Interviews mit Mädchen und Jungen, bei denen deren moralisches Urteilsvermögen getestet werden soll. Die Kinder müssen dabei eine Lösung für das sogenannte “Heinz’schen Dilemma” finden - nämlich für die Frage: Soll ein Mann ein Medikament für seine todkranke Frau stehlen, wenn der Apotheker einen Wucherpreis verlangt, den der Mann nicht zahlen kann?
In den Tests zeigt sich, dass dieses Dilemma von Jungs anders betrachtet wird, als von Mädchen. Während Jungs mit Gesetzen und Regeln argumentieren, versuchen Mädchen eher eine pragmatische Lösung zu finden. Eine, die es erlaubt, das Beziehungsgeflecht zwischen den Beteiligten zu erhalten. Also: Könnte man den Apotheker überzeugen, das Medikament doch günstiger zu verkaufen? Kann der Mann vielleicht in Raten das Medikament abzahlen?
Für Denker wie Freud, Piaget und Kohlberg ist diese Denkweise aber unreif - sogar eine Themaverfehlung! Denn die Mädchen seien offensichtlich nicht in der Lage, sich an abstrakten Werten zu orientieren - also Eigentum versus Leben – sie urteilten nur auf die Situation bezogen. Carol Gilligan aber stellt nicht die rationalen Fähigkeiten der Probantinnen in Frage, sondern die Methodik, nach der moralisches Handeln und Urteilen bewertet wird.
Ethik der Anteilnahme
Sie entdeckt in den Argumentationen der Mädchen eine Ethik der Anteilnahme - im englischen Original spricht sie von “care”. Diese Ethics of care stehen im Gegensatz zu einer eher männlichen Ethik der Gerechtigkeit: “Während eine Ethik der Gerechtigkeit von der Prämisse der Gleichberechtigung ausgeht, dass alle gleich behandelt werden sollten, basiert eine Ethik der Anteilnahme auf der Prämisse der Gewaltlosigkeit, dass niemand Schaden erleiden sollte. Dieser Dialog zwischen Fairness und Fürsorge verhilft uns nicht nur zu einem besseren Verständnis der Beziehungen zwischen den Geschlechtern, sondern ermöglicht auch eine umfassendere Darstellung der Arbeitswelt und der familiären Beziehungen des Erwachsenen.”
Paradigmenwechsel
1982 veröffentlicht Carol Gilligan ihre Forschungsergebnisse dann unter dem Titel: “In A Different Voice” zu Deutsch “Die andere Stimme - Lebenskonflikte und Moral der Frau”. Was als “Untergrund-Buch” begann, läutet schließlich einen Paradigmenwechsel in der Psychologie ein, der bis heute nachwirkt. Heute ganz selbstverständliche Begriffe wie “emotionale Intelligenz” verdanken wir auch Carol Gilligan.
Ihr Buch “Die andere Stimme” ist eine Mischung aus psychologischem Sachbuch, feministischer Analyse und Moraltheorie. Dazu hat sie sehr ausführliche Interviews geführt. Zum Beispiel mit Frauen, die sich entscheiden müssen, ob sie eine ungewollte Schwangerschaft beenden oder nicht. Eine Entscheidung, die definitiv Konsequenzen hat - für einen selbst und für andere.
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Carol Gilligan on Women and Moral Development
Geschlechterklischees in Film und Literatur
Etwas unterhaltsamer sind Gilligans Analysen von Film- und Romanfiguren. Sie zeigt, wie beständig Geschlechterklischees wiederholt werden: Der Mann ist unabhängig, distanziert - die Frau fürsorglich, opferbereit, auf den Mann oder die Familie bezogen. Ja, das Buch ist 40 Jahre alt, aber Gilligans Analyse einer typisch weiblichen Sozialisation und ihren Folgen ist leider noch nicht veraltet.
Das vielleicht Entscheidende: Gilligans Konzept einer Ethik der Fürsorge ist kein per se weibliches Konzept, so wie Fürsorge ja nicht per se weiblich ist. Aus ihren Ethics of care folgt keine weibliche, sondern eine menschliche Moral. Schließlich stecken alle Menschen, egal als was sie sich identifizieren, im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Verantwortung. Oder anders gesagt: Niemand ist eine Insel.
Zündfunk-Kollegin Laura Freisberg moderiert seit sechs Jahren einen feministischen Leseclub in München. Weil gerade jetzt Zeit zu lesen ist, hat sie für uns eine total subjektive Best-Of-Auswahl getroffen und stellt ihre feministischen Lieblingsklassiker vor.