Weltstadt Mit Herz?
Der Dom - eine Ruine, die Oper - ein Torso, die Residenz - in Schutt und Asche. Mehr als 50 Prozent des Münchner Baubestandes sind bei Kriegsende zerstört. Aber bei den Wiederaufbauplänen haben moderne Ansätze keine Chance. Im bombenzerstörten München ist sofort wieder restaurativer Geist an der Macht. Man einigt sich rasch auf die Rekonstruktion der Häuser. Immerhin bleibt München damit das Schicksal von Städten wie Köln mit ihren gesichtslosen Zentren erspart.
In den 50er-Jahren legt sich eine Mischung aus Beschaulichkeit, Nachkriegsverdrängung und Adenauer-Muff bleischwer über die Häuser. Am 15. Dezember 1957 erreicht die Stadt zumindest formal eine Marke, um in die Liga der großen Metropolen aufgenommen zu werden: Der millionste Bürger wird geboren. Nach Berlin und Hamburg ist München die dritte Millionenstadt in Deutschland.
Straßenmusikanten und Polizeiknüppel
1962 startet Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel eine Kampagne, die den Tourismus ankurbeln soll. Aus einem Wettbewerb für den besten Slogan geht "Weltstadt mit Herz" als Sieger hervor - ein aufs Gemüt abzielenden Etikett, was der Schriftsteller Eugen Roth folgendermaßen kommentiert: "Millionenstadt mit Bauernmarkt, Festspielstadt mit Oktoberfest". Oder Kollege Herbert Rosendorfer: "Eine sinnleere, alberne Formel, die einer auch nur annäherungsweisen Nachprüfung nicht stand hält".
Wie viel Herz die Stadt tatsächlich hat, zeigt sie im selben Jahr: Mehreren Straßenmusikanten, die im Juni in der Leopoldstraße nach 22.30 Uhr spielen, rückt die Polizei auf den Leib. Die Situation eskaliert sofort. Noch in derselben Nacht und in den darauffolgenden vier Tagen kommt es zu Straßenschlachten mit bis zu 40.000 Protestteilnehmern. Die Beamten gehen mit Schlagstöcken vor und nehmen 200 Personen fest, die zum Teil Gefängnisstrafen erhalten. Die Ereignisse gehen als "Schwabinger Krawalle" in die Geschichte ein.
Weltoffene Architektur für Olympia
Unter Vogel erlebt München aber auch einen deutlichen Modernisierungsschub. Urbane Planung macht der OB zur Chefsache. Er richtet ein eigenes Stadtentwicklungsreferat ein. Die bayerische Hauptstadt mit ihren Industriekonzernen boomt, wird Forschungszentrum, Verlagsstadt - und wuchert ins Umland hinein. Trabantenstädte wie Neuperlach entstehen. Kaufinger und Neuhauser Straße verwandeln sich in den zentralen Fußgängerbereich.
Außerdem wird die U-Bahn gebaut. Sie dient nicht nur als unverzichtbares Verkehrsmittel für die Münchner, sondern auch als Zubringer für das Olympiazentrum, das für die Spiele 1972 entsteht. Das Olympiastadion ist eines der seltenen Avantgarde-Projekte in der Architektur-Geschichte der Stadt. Einen Augenblick lang ist München auf Weltniveau.
21. Jahrhundert: Stadt ohne Vision
Aber nur einen Augenblick lang. Danach übernimmt Uninspiriertheit wieder das Szepter. In jüngster Vergangenheit hätte sich jedoch wieder eine historische Chance für zukunftsweisendes Bauen geboten. Anlässlich des 100. Jubiläums des 1906 in München gegründeten Werkbundes entwickelte der japanische Architekt Kazunari Sakamoto ein Wohnprojekt in Anlehnung an die berühmte Stuttgarter Weißenhof-Siedlung aus den 1920er-Jahren.
Geplant für das Wiesenfeld in der Nähe des Olympiazentrums, war Sakamotos Werkbund-Version mit integrierter Gartenlandschaft ein international beachtetes Wohnkonzept für eine pluralistische Gesellschaft. Doch der Stadtrat wollte es nicht bezahlen. München - vielleicht doch eher das sprichwörtliche "Millionendorf".
"Wenn man bedenkt, dass das große kulturelle Ereignis in Deutschland das Oktoberfest in München ist, dann weiß man, dass die Ausstrahlung in die Welt ziemlich begrenzt ist."
Leon de Winter