100 Jahre Bergwacht Bayern Von der „Sittenwacht“ zum modernen Rettungsdienst
Edelweiß bewachen und nebenbei verunglückte Wanderer retten: Am 14. Juni 1920, also vor hundert Jahren, wurde im Münchner Hofbräuhaus die Bergwacht Bayern gerettet. Während die Kernaufgabe heute die Bergrettung ist, achtete die Bergwacht früher auf gutes Benehmen. Denn Probleme mit Massenansturm im Gebirge gab es auch damals schon.
Während im Jahr 2020 am Berg Influencer auf Selfie-Jagd gehen, waren die Wanderer früher auf der Jagd nach Edelweiß. Um die Blumen vor der Ausrottung zu bewahren, mussten sie oben am Berg bewacht werden: die Geburtsstunde der Bergwacht. Der Name "Bergwacht" verweist also auf den Gründungsgedanken der Organisation – den Naturschutz. Sagt der Stellvertretende Landesleiter der Bergwacht Bayern Thomas Lobensteiner: "Es gab stehende Posten, die auf Berghängen unterwegs waren und die Wanderer und Berggeher davon abgehalten haben, seltene Blumen abzupflücken. Vor allem, wenn es um Edelweiß oder Enzian ging." Noch heute gehört der Naturschutz zur Ausbildung in der Bergwacht – auch wenn die Rolle des modernen Naturschutz- und Sittenwächters am Berg heute der Deutsche Alpenverein übernommen hat. Lenkungsmaßnahmen wie "Skibergsteigen umweltfreundlich" oder der "Hüttenknigge" appellieren an die Vernunft aller, etwa die Ruhezonen der Rauhfußhühner zu respektieren oder auf der Hütte Wasser zu sparen.
Neues Zuhause im Bayerischen Roten Kreuz
Früher benutzte die Bergwacht bei Knochenbrüchen solche "Streckschienen", heute gibt es moderne Vakuumschienen.
Dabei war die Bergwacht bis 1945 direkt an den Alpenverein angedockt. Doch wegen seiner schwierigen NS-Vergangenheit wurde der Alpenverein 1945 verboten. "Die Bergwacht hat ein neues Zuhause gesucht. Und das hat man dann auch relativ schnell gefunden, und zwar beim Bayerischen Roten Kreuz. Wir sind also eine eigenständige Gemeinschaft des Bayerischen Roten Kreuzes. Bis heute", sagt Lobensteiner. Die amerikanischen Besatzer waren es, die die Bergwacht nach Kriegsende dem Roten Kreuz zuordneten. Aus dieser Zugehörigkeit zum Roten Kreuz leitet sich auch einer der Grundsätze der Bergwacht ab: Neutralität. "Wir sind Retter, keine Richter" lautet deshalb der Lieblingssatz von Bergrettern in Interviews. In der Öffentlichkeit werden sie niemanden verurteilen, und sei der vorangegangene Unfall noch so selbstverschuldet.
Erste Lebendrettung aus der Eigernordwand
Ein internationales Team aus Rettern und Alpinisten brachte Claudio Corti in einer Gebirgstrage ins Tal.
Gerade die Einsätze in großen Wänden sind es, die die Bergrettung alpenweit voranbringen. So auch bei einem der berühmtesten Einsätze alpiner Rettungsgeschichte: Der ersten erfolgreichen Rettung aus der Eiger-Nordwand im Jahr 1957. Der Italiener Claudio Corti und andere Bergsteiger sitzen damals bei Schneesturm im oberen Wandteil fest. Als Bergwacht-Pionier Ludwig Gramminger von der Bergwacht München davon erfährt, wird er sofort aktiv: "Die Schweizer haben gesagt, es hat keinen Sinn, die Verhältnisse sind so schwierig, man kann nichts unternehmen. Ich habe gesagt, wir würden zumindest einen Versuch wagen. Weil für mich gibt es das nicht, dass man nicht helfen kann", sagt Gramminger im Rückblick. Mit einem internationalen Team aus Rettern und Top-Alpinisten installiert Gramminger am Grat oberhalb der Eiger-Nordwand eine Stahlseil-Winde und zieht den halb erfrorenen Corti mehr als 300 Meter die Wand hoch. Die erste Lebendrettung aus der Eiger-Nordwand ist geglückt.
Unterstützung durch Arbeitgeber heute unabdingbar
Heute werden fast ein Fünftel aller Einsätze per Hubschrauber abgewickelt. Damit das klappt, müssen alle aktiven Einsatzkräfte jährlich trainieren. So will man in ganz Bayern Retter vor Ort haben, die Luftrettung beherrschen und auch sonst denselben Ausbildungsstand haben. Für Thomas Lobensteiner ein entscheidender Vorteil des Ehrenamts: "Wir haben in jeder Region eine gewisse Anzahl an Bergrettern immer vorgehalten. Für kleine Einsätze, aber auch für Großlagen. Zum Beispiel beim Lawinenunglück, wo 40 bis 50 Leute im Einsatz sind. Das kann keine hauptamtliche Organisation kostendeckend durchführen." Doch das Ehrenamt hat auch Grenzen. Gerade in den Hotspots rund um Berchtesgaden, Garmisch-Partenkirchen und Oberstdorf ist der Druck auf die Einsatzkräfte enorm. Allein im vergangenen Juli gab es in Oberstdorf rund 70 Einsätze, davon bis zu neun täglich. Wer da Bereitschaftsdienst hat, kommt kaum zum Arbeiten. Das geht nur, wenn die Arbeitgeber mitspielen und ihre Angestellten für die Bergrettung gehen lassen, sagt Karsten Menzel, Bereitschaftsleiter der Bergwacht Oberstdorf: "Es kann kippen, jederzeit. Wenn von drei, vier Leistungsträgern möglicherweise die Arbeitgeber sagen: Es geht nicht mehr, und das nicht mehr zulassen, wäre es möglich, dass uns da Einsatzkräfte und Einsatzleiter wegbrechen. Aber im Moment haben wir das Problem nicht."
Ehrenamtliche Struktur zu langsam
Weiter östlich in Berchtesgaden ist die Situation ähnlich. Dort leistet man sich eine bezahlte Kraft, die neben Schreibtischarbeit auch Rettungen durchführt. Um den staatlichen Auftrag der Bergrettung erfüllen zu können, muss man komplett neu denken, sagt der Bereitschaftsleiter der Bergwacht Berchtesgaden, Thomas Stöger. Die ehrenamtliche Struktur der Bergwacht sei dafür zu langsam. "Die Bergwacht kann nur bestehen, wenn man es schafft, dass man flexibel bleibt, dass man auf neue oder stärker werdenden Herausforderungen schnell kompetente und brauchbare Antworten findet. Das ist bei der ehrenamtlichen Struktur der Bergwacht ganz schwierig. Wir hinken den Ereignissen immer um ein paar Jahre nach", sagt Stöger. Allein 120 Einsätze hatte die Bergwacht bayernweit über Pfingsten abzuarbeiten. Die Pandemie mit einem "Sommer dahoam" wird den Druck auf Bayerns Berge, je nach Wetter, noch erhöhen.