Die Mure von Kolm-Saigurn Skitouren im Rauriser Tal
Der Winter neigt sich auch in den Hohen Tauern allmählich dem Ende zu. Noch ist es aber ganz hinten im Rauriser Tal weiß. Eine der letzten Gelegenheiten also, in den Bergen, in denen die Menschen seit Jahrhunderten nach edlen Metallen in der Erde suchen und die deswegen den Namen Goldberggruppe tragen, nochmal mit Tourenski unterwegs zu sein.
Die Tauerntäler hatten im vergangenen Herbst wegen einer Unwetter-Serie auf sich aufmerksam gemacht. Die Folgen einer Mure sind bis heute im Talschluss von Kolm-Saigurn zu spüren. Als erstes hatte Helmut Tomasek-Mühlthaler die Katastrophe gerochen, denn das saure Aroma von zermahlenem Gestein lag in der Luft, als an jenem Augusttag der Berg kam. Hunderttausende von Kubikmetern Steinen und Schlamm ergossen sich vom Pilatuskar über Almen und Böden. In der Früh hatte es stark geregnet. Die Wasserfälle von Kolm-Saigurn hatten einen Riesen-Lärm verursacht, dann ist das Geröll gekommen unten im Bach, der schon zu einem Fluss angeschwollen war. Am Ende war eine Fläche von 24 Fußballfeldern verwüstet. Die Mure hatte die Ebenen von Kolm-Saigurn mit Geröll zugeschüttet.
Davon ist jetzt im Winter bei Schnee nichts zu sehen. Nur der tiefe Graben, den die Schlammlawine in die Hänge unterm Hocharn-Gipfel gegraben hat, zeigt sich. Klaus Gruber, ortskundiger Bergführer aus dem Salzburger Lungau, deutet beeindruckt auf den neu entstandenen Geländeeinschnitt. Die Mure hat extrem viel Material mitgenommen und das Gelände regelrecht abgefräst.
Ein paar Monate nach dem Unglück präsentiert sich jetzt der Talschluss mit dem Naturfreundehaus und dem Ammererhof als friedvolles Areal. Die Skitour startet auf dem hartgefrorenen, eisigen Sommerweg hinauf zum Schutzhaus Neubau. Harscheisen und gut geschliffene Stahlkanten an den Tourenski helfen über die knifflige Passage hinweg. Nach zwei Stunden ist der „Neubau“ erreicht. Ein spezieller Name scheint den Erbauern des trutzigen Schutzhauses auf 2175 Metern Höhe nicht eingefallen zu sein. Die massiven Steinwände sind mit Holzschindeln verkleidet. Gemütlich auf einer Schneewechte neben dem Haus mit dem Panoramablick thronend, lässt sich das ausgedehnte Skitourengebiet im Rauriser Tal fast vollständig überblicken: Hoher Sonnblick und gegenüber der Hocharn, zwei Skitourenklassiker, dann der wenig begangene, bis zu 40 Grad steile und mit mehr als 2000 Höhenmetern anspruchsvolle Ritterkopf weiter hinten
Doch nicht nur Skitouren-Spezialisten kommen in der Goldberggruppe auf ihre Kosten. Im östlichen Bereich findet sich ideales Tourengelände auch für den Spätwinter. In Richtung Gasteiner Tal wird das Gelände sanfter. Silberpfenning und Kolmkarspitze sind bekannte und beliebte, weil einfachere Skitouren in gemäßigtem Gelände mit weiten Flächen. Kommt Wolken und Wind aus Nordwest, wird am Alpenhauptkamm reichlich Schnee abgeladen. So lässt es sich prima in ein steiles Couloir hineinstechen, das einer grandiosen Skitourenabfahrt das Sahnehäubchen aufsetzt - bis hinab zum Ammererhof. Dort blickt Helmut Tomasek-Mühlthaler nochmal nachdenklich in den Talboden, in dem sich vor gar nicht langer Zeit das Muren-Drama abgespielt hat. Glück im Unglück hatten damals die beiden Talorte Rauris und Wörth, als sich Hunderttausende von Kubikmetern Eis, Geröll und Schlamm vom Berg wälzten. Es gab einen Schutzdamm, der das Ganze aufgefangen und nur das Wasser durchgelassen hat. Sonst wären die beiden Dörfer wohl verwüstet worden. Es gab glücklicherweise auch keine Toten oder Verletzten. Aber noch jetzt im April sind Bagger in Aktion, um die Rauriser Ache wieder in ihr Flussbett zu zwängen und die Landschaft halbwegs wieder so zu modellieren, wie sie früher mal war.
Warum die Schlammlawine unter dem Hohen Sonnblick überhaupt losgebrochen ist, erklärt der Salzburger Landesgeologe Gerald Valentin mit einem „Dominoeffekt“: Starkregen plus Gletscherschmelze plus lose Gesteinsmengen hätten diesen Erosionsprozess angeschoben. Damit müsse man in Zeiten des Klimawandels jetzt öfter rechnen. Der Permafrost hält bekanntlich als gefrorener Kitt Gestein oder Geröll zusammen. Taut diese Verbindung auf, dann wird Gelände im Gebirge instabil. Für die Leiterin des Sonnblick-Observatoriums von GeoSphere Austria, Elke Ludewig, kommt nicht nur der schwindende Permafrost in der Höhe als Ursache in Frage. Ludewig vermutet, dass auch eine Wassertasche im Gletschereis des Pilatuskees geborsten sein könnte. Das Observatorium steht genau oberhalb der Anrißkante der Mure. Ähnliche Effekte sind aus dem Himalaja, z.B. aus Nepal bekannt, wo immer wieder Gletscherseen oder mächtige Wasserlinsen im Eis platzen und alles wegspülen: Ein ziemlich bedrohliches Szenario, das sich Experten zufolge auch im Rauriser Tal wiederholen könnte.