Jakob Wassermann Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens
Der Franke Kaspar Hauser ist wohl das berühmteste Findelkind der Welt. Um seine Herkunft ranken sich viele Legenden. Der Ars Vivendi-Verlag hat nun einen der bekanntesten Romane zum Thema neu aufgelegt.
"In den ersten Sommertagen des Jahres 1828 liefen in Nürnberg sonderbare Gerüchte über einen Menschen, der im Vestnerturm auf der Burg in Gewahrsam gehalten wurde und der sowohl der Behörde wie den ihn beobachtenden Privatpersonen täglich mehr zu staunen gab. Es war ein Jüngling von ungefähr siebzehn Jahren. Niemand wusste, woher er kam. Er selbst vermochte keine Auskunft darüber zu erteilen, denn er war der Sprache nicht mächtiger als ein zweijähriges Kind; nur wenige Worte konnte er deutlich aussprechen, und diese wiederholte er immer wieder mit lallender Zunge, bald klagend, bald freudig. […] Auch sein Gang glich dem eines Kindes, das gerade die ersten Schritte erlernt hat."
Aus dem Roman 'Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens'
Jakob Wassermann: Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens, Nachwort von Gunnar Och, Cadolzburg 2016, Ars Vivendi Verlag, 415 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-86913-636-3
So beginnt Jakob Wassermanns 1908 erschienener Roman über Deutschlands berühmtestes Findelkind. Wassermann erzählt Kaspar Hausers mysteriöse Geschichte von seinem ersten Auftreten 1828 in Nürnberg bis hin zu seinem rätselhaften Tod fünf Jahre später in Ansbach. Bis heute ist unklar, ob Hauser, der an den Folgen eines Messerstiches starb, nun einem heimtückischen Mordanschlag oder einem vom Findling selbst inszenierten Attentat erlag. Jakob Wassermann, der die Quellen zu der unglaublichen Geschichte eingehend studiert hat, glaubt an die Mordthese und erzählt eindringlich und spannend von Kaspar Hauser als legitimem Erbprinz von Baden, den man als Säugling beiseitegeschafft und in einem dunklen Verließ bei Wasser und Brot hat aufwachsen lassen. Bis heute ist die wahre Herkunft Kaspar Hausers umstritten. Wassermann hat den Bestsellerstoff erkannt und zu einem immer noch beeindruckenden Roman geformt.
"Der Vorzug des Wassermann-Romans ist ja, dass er sich an den Quellen orientiert und tatsächlich auch archaisierend erzählt. Und dass er versucht, die Sprache der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachzuahmen. Das gelingt ihm erstaunlich gut. Man nimmt eben nicht diese Brüche wahr. Wenn er vom Quellenzitat in die eigene Erzählersprache hinüberwechselt, ist das eigentlich bruchlos. Es wurde Wassermann ja dann vorgeworfen, das seien Plagiate. Aber das ist natürlich Unsinn, weil das ein sehr modernes Montageverfahren ist. Und wenn man es sich im Detail anschaut, sieht man auch, wie er die Zitate kürzt, frisiert, bearbeitet oder konterkariert mit anderen Zitaten. Das ist ein ganz aufwändiges literarisches Verfahren."
Gunnar Och, Germanist und Wassermann-Forscher
Trotz altertümlicher Sprache leicht zu lesen
Die Neuauflage des Buchs verfügt über ein Nachwort des Erlanger Germanisten und Wassermann-Forschers Gunnar Och. Obwohl der Roman schon über hundert Jahre auf dem Buckel hat, ist er trotz seiner ein wenig altertümlichen Sprache immer noch leicht und anregend zu lesen. Denn Jakob Wassermann hat einen unterhaltsamen Genre-Mix aus Entwicklungsroman, Krimi und Gesellschaftsroman geliefert. Dazu kommen für den fränkischen Leser die vielen schönen und interessanten Lokalbezüge und Wassermanns wirklich herausragende Schilderungen der fränkischen Landschaft. Dass der jüdische Beststellerautor aus Fürth einen Kaspar-Hauser-Roman schrieb, hat eine gewisse Zwangsläufigkeit, findet Och.
"Erst einmal gibt es von Jugend auf ein Vertrautsein mit dem Hauser-Stoff. Er sagt ja, sein Großvater hätte Hauser noch auf der Straße getroffen und sich mit ihm unterhalten. Das ist das Eine. Aber dann gibt es sicher auch eine ganz starke persönliche Identifikation. Und das läuft darüber, dass sich Wassermann auch selbst als ein Außenseiter verstanden hat. Und wenn man den Roman genau liest, kann man bei Kaspar Hauser sogar eine jüdische Signatur entdecken – also jüdische Züge. Das beginnt damit, dass er einmal verfolgt wird und die Flucht dann nicht zufällig, wie ich meine, durch die Judengasse führt."
Gunnar Och, Germanist und Wassermann-Forscher
Kaspar Hauser als Messias-Figur
Jakob Wassermann schätzte an Kaspar Hauser dessen Unschuld und Wahrhaftigkeit und sah in ihm fast eine Messias-Figur. Bekennende Fans dieses Romans wie die homosexuellen Brüder Klaus und Golo Mann identifizierten sich wohl eher mit dem Außenseiter Kaspar Hauser. Dass Hauser auf jeden Fall großes Unrecht widerfuhr, wollte Wassermann schon im Untertitel klarmachen. "Die Trägheit des Herzens" steht für mangelndes Einfühlungsvermögen und Gefühlskälte gegenüber Hauser.
"Die Leitidee ist natürlich, dass diese Charaktere, ob sie nun Hauser gut gesinnt sind oder nicht, alle im Grunde seine Eigentümlichkeit verfehlen und an ihm auch schuldig werden. Explizit solche dubiosen Figuren wie Stanhope. Aber natürlich auch implizit wie Feuerbach, der diese Idee der Gerechtigkeit verfolgt und das dann ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Rücksicht auf Kaspar Hauser. Ähnliches gilt für diesen religiösen Schwärmer Daumer, der auch Kaspar Hauser-Fan ist, aber im Endeffekt versucht, seine eigenen Ideen mithilfe Kaspar Hausers zu beweisen. Und das ist die Grundidee des Romans: Alle werden an Hauser quasi schuldig."
Gunnar Och, Germanist und Wassermann-Forscher
"Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens" von Jakob Wassermann ist noch immer eines der besten Bücher, die über Kaspar Hauser geschrieben wurden. Ein fränkischer Klassiker, den man gelesen haben sollte.
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