90 Jahre Tempo Als Franken die Nase vorn hatte
Hygiene-Segen, Hightech-Produkt, Rotzfahne – das und mehr ist das Papiertaschentuch, alltäglicher Begleiter von Millionen Nasen. Begonnen hat alles vor 90 Jahren mit der Patentanmeldung für das Tempo-Taschentuch in Nürnberg. Die Geschichte eines Gegenstands, dem nichts Menschliches fremd ist.
Von Rainer Aul
In grauer, also nicht sauerstoffgebleichter Vorzeit waren Taschentücher im europäischen Kulturkreis etwas für die bessere Gesellschaft. Wer ein kleines Tuch, dass in eine Tasche passte, sein Eigen nennen konnte, war privilegiert. Seit der Antike waren diese Tücher bekannt, zunächst aus Leinen hergestellt, ab dem Mittelalter auch aus Stoff. Sie wurden für alles Mögliche verwendet. Außer zum Naseputzen.
Früher war Schnäuzen Handarbeit. Adel und Tagelöhner sondergleichen schlonzten schlicht in die Hand, die Finger wurden anschließend an Wams oder Hemd abgewischt. So, wie es gelegentlich heute noch bei Fußballern auf dem Platz zu beobachten ist – mit einem oder zwei Fingern, ausblasend und nicht mit der Hand, mit der später gegessen oder der nichtsahnende Nächste begrüßt wird –, war es nur in höheren Ständen Usus.
"Als noch das erste Menschenpaar
Vergnügt im Paradiese war
Da brauchte es kein Taschentuch
Die Welt war voller Wohlgeruch"
Eugen Roth aus 'Kleine Buch vom Taschentuch', 1954
Luxus auch für Lords
Irgendwann wurde es dann üblich, für die nasale Notdurft ein Taschentuch zu benutzen, und nach und nach verbreitete sich diese Angewohnheit durch die gesellschaftlichen Schichten. (T)rotzdem besaßen selbst Könige nur eine Handvoll Nasentücher, die noch lange Zeit als Luxusgegenstand galten. Erst im 19. Jahrhundert wurden sie zu einem Alltagsgegenstand.
Richtiger Riecher
Natürlich mussten die Stofftücher alle Nase lang gewaschen werden – eigentlich. Aus Gründen der Ästhetik, schließlich nahmen vor allem Tücher von Tabakschnupfern mit der Zeit eine unaussprechliche Färbung an. Zudem war vor allem die Hygiene war ein Problem. In warmen Hosentaschen und angesichts der – was zu befürchten ist – permanenten Grundfeuchtigkeit vermehrten sich Bakterien in Taschentüchern rasant und sorgten ständig für gefährliche Selbstansteckung.
Unhygienisch, unansehnlich, aufwendig zu reinigen – kurz: Stofftaschentücher waren Rotz. Auch als schon Autos fuhren, Flugzeuge flogen und Radios röhrten, lief es für die Nase wie im Mittelalter. Die Lösung kam aus Franken, genauer von Oskar Rosenfelder, Mitinhaber der Vereinigten Papierwerke Nürnberg, wo auch die Camelia-Binden entstanden. Am 29. Januar 1929 meldete er seine geniale Geschäftsidee beim Reichspatentamt in Berlin an: Das Papiertaschentuch.
Und dieser Name: Tempo! Mit diesem Markennamen, den er wenig später für sein Produkt eintragen lässt, hätte Rosenfelder den Nerv der Zeit nicht besser treffen können. Die Moderne nach dem Ende des Krieges lebt von der Geschwindigkeit, ihre Ikonen sind Schnellzug und Rennwagen. Zu dieser Einstellung passt die Handhabung des Tempo-Taschentuchs perfekt: Fix aus der Packung geholt, auseinandergefaltet, nach Gebrauch entsorgt – fertig.
"Drum merkt es Euch für immer Leute – Tempo muss man haben heute."
historische Tempo-Werbung
Tempo ist sozusagen die deutsche Antwort auf das seit 1924 produzierte Kleenex in den USA. Bald zeigte sich, dass Rosenfelder den richtigen Riecher hatte für die Bedürfnisse deutscher Nasen. Die Nachfrage überforderte die Produktionskapazitäten. Wurde der Zellstoff bis 1933 in Handarbeit gefaltet, konnte die Produktion dank immer moderner Fertigungsmaschinen bis 1935 auf 150 Millionen Stück im Jahr gesteigert werden, 1939 waren es 400 Millionen. In den Standorten der Vereinigten Papierwerke in Forchheim und Heroldsberg lief das Geschäft.
Streicher hetzt, Schickedanz kauft
Zu diesem Zeitpunkt waren die jüdischen Brüder Oskar und Emil Rosenfelder schon enteignet. Beide hielten die Mehrheit an den Werken, bis sie den Alltagsterror der Nazis zu spüren bekamen. Die Brüder erfuhren wie viele jüdische Fabrikanten Schikane und Drohungen. Der berüchtigte NSDAP-Gauleiter Streicher hetzte gegen die beiden, forderte die Arisierung des Unternehmens. Schließlich flohen sie vor einer drohenden Verhaftung nach England, wurden jedoch von der SA und den gleichgeschalteten Behörden gezwungen, ihr Unternehmen zu verkaufen.
Nutznießer war Gustav Schickedanz, Gründer und Chef des Quelle-Versandhauses. Er kaufte die Papierwerke 1934 für 457.000 Reichsmark, was laut Oskar Rosenfelders ein Bruchteil des eigentlichen Wertes entsprach. Erst nach dem Krieg einigten sich die Brüder und der Quelle-Gründer auf einen Vergleich, aus Fürth flossen 3,2 Millionen D-Mark nach England. Auch wenn die Rolle von Schickedanz im sogenannten Dritten Reich umstritten ist, bleibt im übertragenen Sinne doch ein brauner Fleck auf dem glyceringebleichten Tempo-Taschentuch.
Der Erfolgsgeschichte im Wirtschaftswunder und danach tat das keinen Abbruch. 1955 wurden eine Milliarde Taschentücher produziert. Heute verlassen jeden Tag mehrere Millionen Päckchen das Tempo-Werk. Über die Jahrzehnte wechselten zwar die Besitzer – seit 2007 gehört die Marke zum schwedischen Essity-Konzern – und auch die Menge der verpackten Taschentücher – einst bis zu 20, heute meist zehn – doch der Schriftzug blieb seit Jahrzehnten gleich.
Tempo=Taschentuch
Mit der Zeit entwickelte sich der Name Tempo zum Synonym für "Taschentuch". Generische Verselbstständigung wird dieses Phänomen genannt, das auch von Zewa, Tesa oder auch vom Walkman und Google bekannt ist. Solche exklusive Markenbekanntheit sei "erst einmal etwas sehr, sehr Wertvolles", sagt Franz-Rudolf Esch, Direktor des Instituts für Marken- und Kommunikationsforschung der EBS Business School in Oestrich-Winkel bei Wiesbaden. "Das gelingt den wenigsten."
Tempo=Tempo?
Aber: "Es ist Fluch und Segen zugleich", sagt Markenforscher Esch. So sieht es auch Sybille Kircher, Chefin einer Düsseldorfer Agentur, die für Unternehmen Produkt- und Markennamen entwickelt. Die Frage sei, so Kircher, wie lange eine Marke von ihrer außerordentlichen Bekanntheit profitieren kann. Denn egal wie viel Geld in Werbung und Innovationen gesteckt wurden: Wenn der Kunde irgendwann zwar von Tempo spricht, aber irgendwelche Taschentücher damit meint und auch kauft, habe "der Hersteller die Investition in die Marke verloren", so Kircher.
Und was ist in Franken, des Tempos ursprünglicher Heimat, übrig von der Papiertaschentuch-Erfolgsgeschichte? Die Produktion wurde 1987 aus Franken nach Neuss bei Düsseldorf ausgelagert, wo noch heute Taschentücher vom Band laufen. Das Werk in Heroldsberg wurde in den 1990ern geschlossen und abgerissen, 2007 wurde mit dem Kamin vor Ort das letzte bauliche Zeugnis gesprengt. Nur das Tempo-Hochhaus im Nürnberger Norden, einst Sitz der Hauptverwaltung der Papierwerke, und ein überdimensioniertes Stahl-Taschentuch in Heroldsberg erinnern daran, dass die Region sie in Sachen Papiertaschentücher mal vorn hatte, die Nase.