EMINEM – The Death Of Slim Shady (Coup De Grace)

Leider gab es keinen Vorabstream zum Album, das mit „Houdini“ schon einen echten Streaming-Hit hat (200 Mio +) - und das von seinen Sample des 80er-Jahre-Hits „Abracadbra“ (Steve Miller Band) lebt: „Houdini“ ist ein Medley aus Eminems drei großen Hits „Without Me“, „My Name Is“ und „Just Lose It“. Darin rappt er „ich hab' null Zweifel, dass die ganze Welt drauf und dran ist, sich in ein paar Pfadfinderinnen zu verwandeln, diese Zensurbehörde will mich (zum Schweigen bringen), Ihr wollt mich canceln, was? Okay jetzt reicht´s“. Dann nennt er seinen Manager Paul (Rosenberg) „falsche Schlampe, männlichen Transvestit (kündige doch)“ und ein paar Zeilen weiter, dass seine „Transgender-Katze“ siamesisch ist, „sich als schwarz identifziert“ und „sich chinesisch verhält.“ Zum Abschied seines Alter Egos Slim Shady wird also nochmal richtig rumgeprollt. Dafür liess er in seiner Heimatstadt Mitte Mai in der Detroit Free Press einen Nachruf für Slim Shady schalten. Diese Promo-Kampagne wurde auch so in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht. Zur Album PR gehört ein Trailer, der einen Reporter an einem Tatort zeigt, der den Mord an Slim Shady aufdecken will – dazu ertönt eine Stimme: „i knew it was just a matter of time for Slim.“ Eminem benutzt vor Veröffentlichung auf seinen Socials derzeit das Bild eines Hasen – dazu wird ein Zaubertrick angekündigt, in dem Marshall Mathers (Eminem) seine Karriere verschwinden lassen zu wollen. Der Album-Untertitel „Coup De Grâce“ meint übrigens „Gnadenstoss“/„Gnadenschuss“. Vielleicht hat er ihn ja tatsächlich verdient? (keine Wertung möglich)

COMMON & PETE ROCK – The Auditorium Vol 1

Eine Traum-Kollabo: das erste gemeinsame Albums der beiden HipHop-Granden. Der Vorab-Song „Wise Up“ findet ich schon in unseren Top Traxx für Juli. Pete Rock ist einer der versiertesten Produzenten der BoomBap-Ära – bei ihm nahmen schon A Tribe Called Quest, Kendrick Lamar oder Gang Starr auf. Aber auch Lady Gaga und Mick Jagger. Und Common ist inzwischen – sowohl vom Weitblick als stimmlich – der Elder Statesmen of US HipHop. Der Oscar- und Grammy-Gewinner ist Aktivist, Autor und Schauspieler („American Gangster“, „John Wick 2“, „Terminator Salvation“). Der Titel verrät es: „The Auditorium Vol 1“ darf man wohl als Beginn einer Reihe verstehen. In Teil 1 ist „We´re On Our Way“ ein weiterer klasse Track: mit relaxten klackernden Beats und Raps von Common über eine gesampelte weibliche Soul-Stimme. Auch „So Many People ft Bilal“ ist eine weitere zeitlose, bewegende, 90er-Jahre geschulte Rap-Nummer. In „Stellar“ rappt er von der Nation Of Islam und Malcolm X. Common schwärmt von der Koop: "Es war schon immer mein Traum, mit Pete an einem Album zu arbeiten. Als wir uns trafen und ich von ihm und all seinen Platten und seiner MPC umgeben war, spürte ich den Geist dessen, was ich an Hip-Hop und Soulmusik immer geliebt habe und warum ich Teil dieser Kunstform sein wollte. Seine Beats, seine Produktion, seine Scratches brachten mich an einen Ort, an dem ich einfach frei, ein MC sein konnte. Es fühlte sich an, als wäre ich zu Hause." Tolles Teil, wir freuen uns schon auf Pt 2. Für die Vinyl-Fans: die LP kommt erst am 23.8. (8,3 von 10 Punkten)

BRIJEAN – Macro

Eine Musikerin auf dem Sprung: bisher kennen wir sie eher als Percussionistin in US-Bands /-Projekten wie Mitski, US. Girls oder Toro Y Moi. Mit letzterem ist sie auch auf der Talking Heads – Stop Making Sense – Coverplatte drauf (sie interpretieren „Genius Of Love“ vom TH-Ableger Tom Tom Club, danke!). Nun hat Brijean Murphy ihr viertes Album fertig: Brijean – das sind sie und der Multi-Instrumentalist / Produzent Doug Stuart bzw: House-ige Sonnengrooves, dazu funky-Psych-Pop- und zT jazzy Brasil-Flair. Am bestechenden Groove hat Khruangbins Minimal-Drummer Donald „DJ“ Johnson mitgewirkt. Sie selbst sagt, dass „Macro“ die „dynamischte, kollaborativste und song-orientierteste Platte“ sei. Uptempo-Nummern wie „Workin´ On It“, „Scenic Route“ und „Bang Bang Boom“ passen in eine Playlist zwischen Unknown Mortal Orchestra und Les Sins (Toro Y Moi-Nebenprojekt). Das Duo Brijean liefert den neuen, avancierten Vibe von L.A. - hypnotischer Indie-Pop, auch Sommerparty-geeignet. (7,8 von 10 Punkten)

CIGARETTES AFTER SEX – X´s

Die New Yorker Dream-Pop-Band mit ihrem Pop-Noir geht in die nxt Runde. Bzw an den nxt für Greg Gonzalez wichtigen Orten. Seine Platten sind deutlich geprägt von den Orten der Aufnahmen: das Treppenhaus des Collages in El Paso (wo er begann), dem ersten New Yorker Proberaum in Brooklyn, ein Innenhof in Mallorca – und nun das Haus am Fusse der Hollywood Hills in L.A. Dort lebte Greg mit seiner damaligen Partnerin („X´s“). Dementsprechend geht es um das Verarbeiten der vier Jahre dauernden Beziehung: "Ich könnte mich hinsetzen und mit jemandem über diesen Verlust sprechen, aber das würde nicht an der Oberfläche kratzen. Ich muss wirklich darüber schreiben, darüber singen, die Musik haben, und dann kann ich anfangen, es zu analysieren und daraus zu lernen. Oder ich erlebe es einfach noch einmal - auf eine gute Art und Weise." In mehreren Sessions nahm sein Trio Album Nummer 3 auf. Nachdem die beiden letzten Platten in Deutschland die Top40 knackten – in einigen europäischen Ländern gar die Top 10 – dürfte „X´s“ noch erfolgreicher werden. Auch wenn C.A.S. inzwischen mit den Shoegaze-Klassikern Cocteau Twins, Mazzy Star oder den Cowboy Junkies verglichen werden: bei mir stellt sich nun ein gewisser Abnutzunx-Effekt ein. Gregs ewige Flüster-Stimme und die anhaltend minimalen Sounds verengen die kompositorischen Möglichkeiten – ihr Lovesongs-Kitsch-Core wirkt bei mir nicht mehr so wie anfanx. Wer die Band erst jetzt entdeckt, der wird aber fühlen, dass es erstmal nahezu unmöglich ist, keine Gänsehaut zu bekommen. Sie bleiben Streaming- und TikTok-Champs. Und das ohne Musikvideos. Im November spielen sie in Berlin, Köln, Wien und Basel. (7,3 von 10 Punkten)

JOE GODDARD (Hot Chip) – Harmonics

Auch er gibt jungen Stimmen eine Chance – doch im Vergleich zu Metronomy hören wir ihn am Mikro: Goddard singt meist im Duett mit seinen VokalistInnen. Die bekanntesten sind Tom McFarland von Jungle; Hayden Thorpe (ex-Wild Beasts) und der Jazzer Alabaster DePlume. Der Mann mit der tieferen Hot Chip-Stimme lässt sich Zeit für seine eigenen Platten – meist sieben, acht Jahre - bis das Ergebnis „harmonisch“ genug für seine Ohren ist. Schliesslich gibt es in der Welt genug Aggression und Spaltungen, wie der Brite betont. Verglichen mit seinen früheren Solo-Platten ist „Harmonics“ weniger clubbig und radio-freundlicher angelegt – man höre die Single „New World (Flow)“ ft Florious. Die 14 Stücke sind meist zärtlicher, divers angelegter Synthie-Pop: dh das Stück mit Ibibio Sound Machine hat Afro-Pop-Touch, dazu Lieder mit leichten Garage-House-Beats und das mit Rapper Oranje hat HipHop-Elemente – alles mit dem gewissen Soul, der hat immer Vorrang. Und auch die Intuition – nicht zuviel nachdenken beim Musikmachen. Wie er im Zündfunk Interview zur neuen Platte sagt. Und für die Fans seiner Band noch ne gute Nachricht: später im Jahr treffen sich Hot Chip wieder im Studio. Alexis Taylor und Al Doyle von Hot Chip machen sich schon mal warm und wirken bei einem Solo-Stück von Joe mit. (7,4 von 10 Punkten)

METRONOMY – Posse EP Vol 2

2021 erschien die erste Posse EP der britischen Band um Joe Mount. Nun Teil 2 der Mini-LP mit Stimmen aus Metronomys „Blase“. Diesmal nicht ganz so unbekannte MCs bzw SängerInnen, die zu Joes Instrumentals ans Mikro geladen wurden. Nicht ohne Grund: Mount mag nach 20 Jahren Singen seine Stimme nicht mehr hören und will seine Popularität lieber dafür nutzen, neue VokalistInnen zu pushen. Diesmal sind es ua die Rapper Master Peace, Joshua Idehen und Pan Amsterdam (der auch Trompete spielt), Sängerin Naima Bock und beim Hit „Contact High“ die bezaubernde Miki und die Brüder von Faux Real. „Immer wenn ich Metronomy höre, höre ich meine Stimme und das nervt mich“, erklärt Mount, „ich kann mich nicht von dem Song lösen. Ich höre ‚Contact High‘ und denke 'Wow, ich habe damit zu tun!' Ich kann ihn mir immer wieder anhören.“ Ein Förderer wie Joe Mount ist wichtig und seine Entscheidung richtig. So bleibt Metronomy auch für die nxt Generation ein Thema. Und für Mount interessant: jetzt freut er sich auch wieder aufs selbst singen. So lange darf man die „Posse EP 2“ feiern: so abwexlunxreich kann Indie-Pop heute sein – Mount bringt ihn zum Tanzen. Und „Contact High“ ist eine der Pop-Perlen fürs College-Radio 2024. (8,2 von 10 Punkten)

SAULT – Acts of Faith 1.0 (Wav.- File)

Die Londoner Neo-Soul-+R´n´B-Band liebt Überraschungen: vor wenigen Tagen boten sie auf ihrem Instagram-Kanal einen Download-Link an. Wenn man draufklickt, lädt sich eine 32-minütige Musikdatei herunter. „Acts of Faith 1.0“ heisst sie und kommt wie ein Medley daher – die Stücke laufen im Nonstop-Mix ineinander. Aber mit harten Medley-Schnitten und keinen sanften DJ-Übergängen. In ihrer Diskographie schon das elfte Album – seit ihrem Aufploppen 2018. Der Titel tauchte im Dezember erstmals auf: als sie in London ihr erstes Konzert gaben, war einer der Räume im Drumsheds mit „Acts Of Faith“ überschrieben – wie Fans auf Insta posten. Inflo und Cleo Sol – das Paar, das offensichtlich hinter Sault steht, kündigte damals weitere Konzerte an – ua auch in „Germany“. Mal sehen, wann und wo und ob überhaupt? Meine Lieblingsstelle des neuen Albums beginnt bei Minute 11. Ob es Klassiker des mysteriösen Projekts werden wird, von dem es keine Fotos gibt? (8,0 von 10 Punkten)

Die Verlierer - Die Verlierer

Der Berliner Band gelingt eine moderne Version von Punk / Post-Punk, ohne in die 77er-Retro-Falle zu tappen. Das macht Die Verlierer zu Die Gewinner. Sie selbst sagen, dass der „arbeitsverweigernde Untergrund-Rock der zerfallenden DDR“ mehr Einfluss als die Original-Punx der Londoner Kings Road sind: musikalisches Rumpeln als Solidarität mit sogenannten „Versagern“. Aber ansonsten sind wir eher im Punk-Themenladen 2024: die Stücke heissen „Albtraum“, „Schrottplatz“ (das wie eine Punk-Rock-Version der Einstürzende Neubauten daherkommt) oder „Beton“ – eine der hymnischen Nummern des Zweitlings der Band. Die Fans kennen Die Verlierer seit ihrer Split-Single von 2021 – die sie mit den befreundeten Chuckmuck herausgaben. Und mit ihrem Debüt fanden sie auch internationales Lob: „a sound as clear as a broken glass – with shades of both American and German influence“ lautete eine Kritik. Ab Ende Juni – Fusion Festival – sind die Verlierer auf Tour – in Deutschland. U. a. in August in Regensburg (Void Fest) und im Okt in München + Augsburg. (7,5 von 10 Punkten)

RAH & THE RUFFCATS – Orile To Berlin

Eine Studio-Sessions-Band aus Berlin, die es schon seit 2007 gibt – und die wir uns endgültig merken müssen. Was auch daran liegt, dass sie mit dem nigerianischen MC RAH eine klasse Stimme gefunden haben. In den vergangenen 15 Jahren haben die Ruffcats schon als Begleit- bzw Tourband für die US-Sängerin Georgia Anna Muldrow, den deutschen Soulsänger Flomega oder die erste Voice of Germany-Gewinnerin Ivy Quainoo gespielt. Seit RAH – Kurzform für Rapturous Apollo Helios – in Berlin ist, holte er schon Erykah Badu oder Bilal auf die Bühnen der Stadt. Bereits 2018 – nach Rahs Solo-Debüt - arbeiteten sie erstmals zusammen – für eine Curtis Mayfield–beeinflusste Uptempo-Single. Nun ist zusammengewachsen, was augenscheinlich zusammen- gehört: wir hören es dem ansteckenden Debüt als Rah & The Ruffcats an. „Orile To Berlin“ steckt voller Afro-Beat, Afro-Funk und Afro-Soul - mit Rap-Parts als auch mit Gesangs-Nummern. Eine Platte, die so dermassen groove-t – es sollten unzählige Einladungen auf Sommerfestivals folgen. Das renommierte Sonar Kollektiv (das Label von Jazzanova, sie brachten schon Platten von Gilles Peterson, DJ Spinna, Âme heraus) hat die Spiritualität und Internationalität erkannt – und veröffentlicht die Platte. Im August spielen sie in Aachen und in Berlin – im Dezember u. a. in Regensburg (5.12. Alte Mälzerei) und München (Milla Club, 6.12.) (7,9 von 10 Punkten)

ANNA VON RAISON/AVR – Salvation

Sie pendelt zwischen den Kontinenten und den Stilen: die Berlinerin, die gern auch in den USA Musik macht, spielte schon mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, auf der TEDxBerlin-Konferenz und für ein französisches Modehaus. „Ist sie Electro? Jazz? Oder gar Klassik?“ fragte der deutsche Rolling Stone anlässlich der zweiten Maxi. Anna, die in Amsterdam und New York Jazz-Piano studierte, hat auch Philip Glass bearbeitet – er veröffentlichte ihre „Etude 2“ auf seinem Label ´Orange Mountain Music´. Und die US-Ausgabe des Musikmagazins schreibt zu ihrem Debüt als ´AVR´: „the most exciting new avant-gardist in today’s Pop“. Auf ´Salvation´ geht sie Richtung R´n´B – in einer ätherisch-leichten Dreamscape-Version – die Stücke atmen einerseits den (Auto-tune-) Geist der Gegenwart – sind aber auch Stevie Wonder-geschult und Grimes-beeinflusst. Man bemerkt ihre immense Erfahrung: Anna spielte im Studio schon für Charlotte Gainsbourg oder das experimentelle Soundwalk Collective – Freunde von Patti Smith. Ihr Song „Under The Sand“ landete auf dem Soundtrack des US-Films „After Everything“. Kein Wunder, dass sie auch als Berliner Musikkuratorin und Koops mit Pariser Modehäusern gebucht wird. „Salvation“ zeigt ein großes Talent auf ihrem vorläufigem Höhepunkt bzw bei ihrem nxt internationalen Schritt. (7,6 von 10 Punkten)

CASSANDRA JENKINS – My Light, My Destroyer  

Sternenhimmel oder Licht. CW sagt, in der Welt da draussen fühle sie sich am lebendigsten, in Städten und unter Menschen, regelrecht elektrisiert. Und diese Spannung gelte es zu wandeln: ihr Stromwandler sei die Kreativität – herauskommen neue Songs. Die sie mit leisen Field Recordings aus Zügen oder Flügen anreichert. Jenkins klingt vorsichtig-zurückgenommen, ihr Sound ist Soft-Pop mit leichten Jazz- und New Age-Einsprengseln. Geholfen haben ihr MusikerInnen von Hand Habits, Amen Dunes, Katie von Schleicher uvm. Ihre Einflüsse sind Annie Lennox (Eurythmics), Tom Petty und Neil Young. Entstanden sind die Stücke aus Cassandras Aufzeichnungen in Notizbüchern der letzten Jahre. An manchen Liedern war ihre Partnerin Hailey Benton Gates beteiligt – die US-Regisseurin / Schauspielerin / Journalistin. „My Light, My Destroyer“ (ein Zitat aus dem Song „Omakase“) ist ein Album, das sich nicht beim ersten Hören erschliesst. Am besten man macht man es – wie beim Buchlesen - in einer ruhigen Stunde. Noch besser: mit Kopfhörer. Dann fühlt man ihre leise fliessende Elektrizität. Und Neugier an der Welt. Was heutzutage schon fast etwas Besonderes ist – angesichts der vielen Mitmenschen, die sich in ihrer eigenen Blase stark abschotten. (7,7 von 10 Punkten)