Fassbinder Die späten Filme
1975 wendet sich Fassbinder zunächst wieder dem Theater zu. Doch das Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" endet im Eklat. Sein spätes Projekt "Berlin Alexanderplatz" ist eines der ambitioniertesten der deutschen TV-Geschichte.
Begeisterte Kritiken zu "Martha", viel Lob für "Fontane Effi Briest" auf den Berliner Filmfestspielen, ein großes Publikum für "Angst essen Seele auf": 1975 ist es wohl Zeit, dass Fassbinder wieder Theater macht. Der Regisseur lässt sich am Frankfurter Theater am Turm verpflichten - besser: Er entert die kleine Bühne mit seinem Antiteater-Clan. Auf Ausgabendisziplin, Mitbestimmung und Pressearbeit hat Fassbinder keine Lust und agiert wie ein Freibeuter in einer WG-Küche.
Die Stadt, die Kunst und das Tabu
Die Saison endet im Eklat: Der Grund für Fassbinders Entlassung ist ein banaler Streit um Geld; eine Art Kulturkampf aber löst Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" aus, eine düster-bizarre, von pornografischen Szenen durchsetzte Großstadt-Revue, in die Fassbinder so mehrdeutige wie drastische Anspielungen auf die Rolle jüdischer Finanziers beim Abriss von Altbauten im Frankfurter Westend einarbeitet. Mehrfach werden Aufführungen angesetzt und wegen Antisemitismus-Vorwurf noch vor der Premiere gestoppt. 1985 - drei Jahre nach Fassbinders Tod - löst ein neuer Anlauf in Frankfurt Tumulte aus. Der Tabubruch, urteilt Michael Töteberg, "ist inzwischen selbst zu einem Tabu geworden".
Fassbinder im Herbst
Für Fassbinder beginnt eine schwierige Zeit: Projekte scheitern, Finanziers ziehen sich zurück. Die aufwendige Nabokov-Verfilmung "Despair - Eine Reise ins Licht" (1977) gerät trotz internationaler Starbesetzung mit Dirk Bogarde zu elitär und zerfasert, um Erfolg zu haben. Fassbinders Freund Armin Meier nimmt sich das Leben, nachdem der Regisseur aus New York brieflich mit ihm Schluss gemacht hat. Mit "Satansbraten" (76) und "In einem Jahr mit 13 Monden" (78) entstehen radikal persönliche Filme, deren Brutalität weder den Autor noch den Zuschauer schont.
Berlin Alexanderplatz: "Eine Liebe, das kostet immer viel"
Die Zeit ist reif für ein Projekt, das Fassbinder mit sich herumgeschleppt hat, seit er 19 war: Eine Verfilmung von Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz". Sebastian Höger hat die 13-teilige Fernsehserie als "gescheiterte Therapie" bezeichnet. Fassbinder selbst sieht in den Figuren des Ex-Häftlings und "guten Menschen" Franz Biberkopf und seines zynischen Freundes Reinhold zwei Seiten seiner selbst: in "Faustrecht der Freiheit" hat Fassbinder schon einmal eine Figur mit dem Namen "Franz Bieberkopf" verkörpert; auch andere Verlierertypen des Fassbinderschen Kosmos sind im Grunde "Biberkopfgeburten".
Die Filmtherapie scheitert - ebenso die Literaturverfilmung. Eine solche aber hat Fassbinder - anders als bei Effi Briest - gar nicht im Sinn. Aus Döblins expressiv-rasanter Collage des Lebens in den Metropolen der Moderne macht Fassbinder ein oft statisches Kammerspiel im Dunkeln tappender Seelen. Das Ergebnis steht in seiner Intensität für sich und spaltet die TV-Öffentlichkeit über Wochen.
Die "BRD-Trilogie": Die Zeit der Frauen
Neben den "Franzen" sind es die Frauen, die ihn in diesen Jahren bewegen. Unbeabsichtigt entsteht - neben der Großproduktion "Lili Marleen" - eine "BRD-Trilogie" um die Figuren Maria Braun, Veronika Voss und Lola, die drei sehr verschiedene Lebenserfahrungen der Jahre zwischen Kriegsende und Wirtschaftwunder verkörpern. Virtuos collagiert Fassbinder großes Gefühlskino und dokumentarisch präzises Zeitkolorit, setzt Plakate, Fotos und Konsumprodukte ins Bild, unterlegt die Tonspur mit Radiotönen und Schlagermelodien. Die Zeitebenen, das "Private" und das "Öffentliche" schieben sich unentwirrbar ineinander.
Das Filmmaterial scheint die Heldinnen "einzukleiden": "Lola" filmt Franz Xaver Schwarzenberger in falschfarbigen 50er-Jahre-Bonbontönen. Die Sehnsucht des süchtigen Ex-UFA-Stars Veronika Voss zeigt sich in einem mondän gefilterten Schwarzweiß, bei dem in Umkehrung klassischer Sehgewohnheiten strahlendes Weiß das Reich des Bösen - die Praxis der mörderischen Morphiumärztin - markiert. Nie war der deutsche Film Hollywoods Sternen, dem Geist Sirks, Dreyers, Hitchcocks und Billy Wilders näher.
Goldener Bär und weißes Rauschen
Gleichwohl schlagen Fassbinders Leben, Werk und Rezeption weiter ihre ironischen Volten: Die Hauptrolle in "Die Ehe der Maria Braun", die Hanna Schygulla zum Weltstar macht, soll zunächst Romy Schneider spielen; die Dreharbeiten des mustergültig aufgebauten Films verlaufen auch für Fassbinder-Verhältnisse chaotisch und führen erst zum Zerwürfnis mit Produzent Michael Fengler, dann zu Michael Ballhaus' Abschied Richtung Hollywood. "Die Sehnsucht der Veronika Voss" erhält dann den Goldenen Bären, den Fassbinder für Maria Braun erwartet hatte, obwohl der Film als Lückenfüller für ein verschobenes Großprojekt startet: Eine Verfilmung von Pitigrillis indiziertem Roman "Kokain". Die kann der inzwischen kokainsüchtige Fassbinder nicht mehr realisieren.
Auch sein nächster - und letzter - Film "Querelle" ist die Adaption eines Skandalromans, dessen Plot ein größeres Publikum praktisch ausschließt. Dann schiebt sich zum unwiderruflich letzten Mal Fassbinders Leben vor die Rezeption seiner Filme: Noch bevor "Querelle" in die Kinos kommt, hört in der Nacht des 10. Juni 1982 das Herz des Filmemachers vor dem Fernseher auf zu schlagen. Vor großem Publikum wird Rainer Werner Fassbinder auf dem Bogenhausener Friedhof begraben.
Literatur in Auswahl
Peter Berling: Die 13 Jahre des Rainer Werner Fassbinder. Leben und Werk. Lübbe 1992
Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder. Bertz Verlag, 2002
Michael Töteberg: Rainer Werner Fassbinder. rororo 2002
Kurt Raab, Karsten Peters: Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder. Goldmann Wilhelm 1986
Gerhard Zwerenz: Der langsame Tod des Rainer Werner Fassbinder. Ein Bericht. Droemer Knaur 1983.