Was die Technik von der Natur abschaut
Natur und Technik | Gy |
---|
Saubere Leistung: Am Lotus perlt einfach alles ab! Mit der Entschlüsselung dieses Effekts begann das bionische Zeitalter. Seither ist Lernen von der Natur das ganz große Ding. Materialforschung und Produktentwicklung setzen immer mehr auf biologische Vorbilder.
Die Aufforderung, im Buch der Natur zu lesen, war Jahrhunderte lang vor allem ein moralischer Appell. Von den Bienen sollte sich der Mensch den Fleiß, von den Ameisen die Klugheit, vom Löwen die Standhaftigkeit und von der Taube die Sanftmut abschauen. Wer heute das Buch der Natur aufschlägt, sucht in der Regel keine frommen Verhaltensvorbilder, sondern Anregungen für die Entwicklung neuer Materialien und Technologien, die biologische Strukturen, Konstruktionsprinzipien oder Funktionsweisen technisch umsetzen.
Bionik - Zwischen Biologie und Technik
Diese moderne Lesart des Buchs der Natur heißt Bionik. Das Kunstwort verschmilzt die Biologie mit der Technik und steht für den Versuch, das immense Repertoire der Evolution für die Lösung technischer Aufgaben anzuzapfen. Größte Anreize schafft dabei vor allem die hohe Energie- und Ressourceneffizienz, mit denen sich Pflanzen und Tiere als überlegene Lehrmeister in Sachen Nachhaltigkeit erweisen.
Aber ist der Ansatz wirklich so neu? Versuchte nicht schon Ikarus den Vogelflug nachzuahmen, indem er sich mit Wachs verklebte Federn aufschnallte? Ließ sich nicht schon Leonardo da Vinci von trudelnden Ahornsamen zu einer Vorwegnahme des Hubschraubers inspirieren? Stimmt alles. Versuche, die Natur nachzuahmen, gab es schon immer. Aber es blieb bei mehr oder minder geglückten Imitationen äußerer Erscheinungen.
Natur zu verstehen und nicht kopieren
Mit oberflächlichen Plagiaten und kruden Nachbauten war nichts gewonnen. Den Durchbruch schaffte die Bionik nicht mit Kopien der Natur, sondern mit der Entschlüsselung feinster Detailstrukturen sowie chemischer und physikalischer Funktionsprinzipien auf molekularer und atomarer Ebene. Dazu musste der Mensch lernen, sehr genau hinzusehen und in Bereiche vorzudringen, die dem bloßen Auge und selbst dem Lichtmikroskop verborgen bleiben.
Die erforderlichen Werkzeuge standen erstmals gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts mit dem Elektronen-, dem Rastertunnel- und dem Rasterkraftmikroskop zur Verfügung. Mit diesen Instrumenten gelang es, die Auflösungsgrenze des sichtbaren Lichts zu durchbrechen und Strukturen auf atomarer Ebene zu erkennen. Damit aus dem Sehen ein Verstehen werden konnte, musste die Forschung eine weitere Grenze überwinden: die der Fachdisziplinen. Biologen und Botaniker mussten sich mit Physikern, Chemikern, Nano- und Biotechnologen vernetzten, um ihre Beobachtungen auszuwerten. Durch diesen interdisziplinären Austausch entfaltet die Bionik ihre ganze Schubkraft, erst dieses Zusammenspiel wird am Vorbild der Natur inspirierte Materialien und Technologien schaffen, von denen wir heute allenfalls zu träumen wagen.