Die besten Bücher 2023 Diese Sachbücher und Romane legen wir euch ans Herz
Wir haben gelacht, geweint – und uns fast übergeben: Das sind die Lieblingsbücher 2023 der Zündfunk-Redaktion. Eine Liste voller Sachbücher und Romane, die sich gut unter dem Weihnachtsbaum machen. Oder auf dem eigenen Nachttisch. Man soll ja auch an sich selbst denken. Self-Care und so.
Caroline von Lowtzow empfiehlt: "Young Mungo" von Douglas Stuart
Schon mal was vom „Glasgow-Effekt“ gehört? Nein? Ich auch nicht – bis ich den Roman "Young Mungo" gelesen habe. In Großbritannien liegt die Lebenserwartung der Männer durchschnittlich bei 77 Jahren, die der Frauen sogar bei 81. Nicht so in Glasgow. In Glasgow kommt der Tod schon mit 53. Jedenfalls, wenn man in bestimmten Vierteln im Osten der schottischen Stadt lebt. Hier, im Glasgow der 90er Jahre, wächst der 15-jährige Mungo heran – mit seiner alkoholkranken Mutter Mo-Maw, die regelmäßig tage- und wochenlang verschwindet, immer auf der Suche nach einem Drink und einem Mann, der sie liebt. Es ist ein tristes Leben voller Gewalt, Suchtproblemen, Arbeitslosigkeit, Geldmangel, toxischer Männlichkeit, ein Leben, in dem es außer Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit wenig gibt.
Und doch tritt das Wunder der Liebe eines Tages in sein Leben: James. Wie Mungo ist er Halbwaise und hat sich auf einem grünen Fleck zwischen den Mietskasernen einen Taubenschlag gebaut, eine Oase der Ruhe und des Friedens in all dem Leid, das das tägliche Leben durchzieht. Doch James ist Katholik. Als Mungos Bruder von der Freundschaft erfährt, droht er den Taubenschlag samt James abzufackeln. Was würde also erst passieren, wenn entdeckt würde, dass Mungo James geküsst hat. „Romeo und Julia“ geht auch in den 90ern in Glasgow nicht gut aus. Zu sehr sind die Männer in ihren toxischen Idealen gefangen, die Frauen zu sehr verstrickt in Rechtfertigung und Scham, Nähe kann es nur geben verbunden mit Härte und Gewalt. Dennoch ist „Young Mungo“ kein bloßer Elendsvoyeurismus, keine reine Trauma-Verarbeitung des Autors, sondern ein tolles Buch. Und alle, die die Brutalität abtun wollen mit dem Verweis auf die 90er oder auf das Milieu: In diesem Jahr wurde wieder gemeldet: Queere Menschen werden in Bayern überdurchschnittlich Opfer von Straftaten.
Erschienen bei Hanser Verlag
Johanna Hintermeier empfiehlt: "Wo die Geister tanzen" von Joana Osman
Wer waren ihre Großeltern und Onkel, die in Palästina, im Libanon und der Türkei aufgewachsen sind? Und wie kam ihr Vater nach Deutschland, in die bayerische Kleinstadt, in der Joana Osman heute noch lebt? Diese Krümel der Erinnerung pickt Joana Osman aus einer alten Keksdose in Form von Tagebüchern. Dazu recherchiert sie vor Ort und erzählt eindrücklich die Fluchtgeschichte ihrer palästinensischen Familie. Fast beiläufig schlüsselt sie die großen Konfliktlinien der Israelis, Palästinenser und der Region auf.
Was hier erfunden und was die Wahrheit ist, das bleibt das Geheimnis Osmans. Die Autofiktion ermöglicht ihr, Autorin, Erzählerin und Protagonistin zugleich zu sein. So beschreibt sie die Einstellung ihrer Familie gegenüber Juden und dem israelischen Staat anekdotisch, szenisch, Familienmitglieder werden zu Romanfiguren mit Eigenleben. Und doch zollt sie beiden Seiten Respekt und Verständnis. Man könnte das als unpolitisch und etwas feige deuten. Doch genau mit dieser großen Menschlichkeit schreibt Osman gegen versteinerte Narrative, Hass und Unverständnis auf allen Konfliktseiten an. Joana Osman hat ein Buch geschrieben, das einem deutschen Publikum eine palästinensische Lebensrealität zeigt, ohne dabei eine jüdische abzuwerten und Europa und die arabische Welt aus der Verantwortung zu ziehen. Empathie wird bekanntlich größer, wenn man sie teilt.
Erschienen bei C. Bertelsmann
Meret Reh empfiehlt: "Wir müssen die Liebe neu erfinden" von Mona Chollet
In „Wir müssen die Liebe neu erfinden“ zeichnet die Schweizer Autorin eine Welt voller Widersprüche: Sie beobachtet eine Gesellschaft, die auf Heterosexualität getrimmt ist, aber gleichzeitig Männern und Frauen so unterschiedliche Rollenskripte in die Hand legt, dass sie sich unmöglich verstehen können. Dabei gibt Mona Chollet persönliche Einblicke in ihr Liebesleben. Die Autorin verknüpft private Anekdoten mit feministischer Literatur wie von der Schwarzen US-Amerikanerin Bell Hooks oder der französisch-israelischen Soziologin Eva Illouz. Mona Chollet will für die Liebe kämpfen. Und sie weiß auch genau, gegen wen es dabei hauptsächlich gehen muss: „Das Patriarchat“, wie sie im Interview erzählt.
Chollet will, dass wir aus der Liebe eine permanente Revolution machen: „Wenn wir frisch verliebt sind, dann schaffen wir es eher, Dinge anders machen, mit Rollenbildern zu brechen. Aber im Laufe der Beziehung fallen wir zurück in gewohnte Muster, Frauen werden abhängig, Männer verschließen sich. Wir müssen diese Euphorie vom Anfang beibehalten.“ „Wir müssen die Liebe neu erfinden“ sprüht voll Optimismus, dass sich Dinge verändern können. Und eines soll Mona Chollets Buch ganz sicher auch nicht sein: Eine Absage an die romantische Liebe.
Erschienen bei DuMont
Barbara Streidl empfiehlt: "Stärker als Wut: Wie wir feministisch wurden und warum es nicht reicht" von Stefanie Lohaus
„Ja, ich bin eine wütende Feministin!“, lautet der erste Satz im Buch von Stefanie Lohaus, ihres Zeichens Mitherausgeberin des Missy-Magazins. Denn das Gefühl der Wut ist oft Ursprung des Aktivismus, erklärt die 45-Jährige im Interview mit dem Zündfunk. Dabei werde Frauen häufig die Berechtigung entzogen, überhaupt wütend zu sein. Und somit, Stichwort: Intersektionalität – also Mehrfachdiskriminierung – wird es Schwarzen Frauen fast unmöglich gemacht, zornig zu sein. Stefanie Lohaus, geboren 1978 in Dinslaken, gehört zur neuen Generation von Feminist:innen, sie wagt eine Rückschau auf den feministischen Diskurs in den 80ern, über die 90erund wichtigen Figuren wie der Künstlerin Beyoncé bis in die Gegenwart.
Die Crème de la Crème der feministischen Aktivismusszene empfiehlt Stefanie Lohaus Buch: Mithu Sanyal, Anne Wizorek und Teresa Bücker. Ich schließe mich an – es ist eine klar gezeichnete Chronologie der Ereignisse der letzten 50 Jahre, an die wir uns erinnern sollten. Ist doch „feministische Erinnerungskultur“, wie Lohaus schreibt, längst mehr als bloß „Girlie-Pop“ und „auch gesamtgesellschaftlich von großer Bedeutung“. Sie wünscht sich zu Recht, dass „Feminist*in zu sein“ bald so selbstverständlich ist wie „Demokrat*in zu sein“.
Erschienen bei Suhrkamp
Alba Wilczek empfiehlt: "Icebreaker" von Hannah Grace
Nachdem ich dieses Jahr sehr viele „intellektuell hochansprechende“ Schinken verschlungen hatte, sehnte ich mich nach etwas leichter Kost, die Spaß macht. Und da kam "Icebreaker" wie gerufen: Die Eiskunstläuferin Anastasia „Stassie“ will eigentlich nur zu Olympia. Doch dann lernt sie den attraktiven Eishockey-Team-Captain Nathan kennen, der sie regelmäßig um den Verstand bringt. Als dann auch noch Stassies Eiskunstlauf-Partner Aaron trainingsunfähig wird, ist die Love-Story vorprogrammiert. Was soll ich sagen, ich bin einfach ein Sucker für Teenage-Romance-Geschichten, besonders wenn sie wie hier mit feministischem Blick, Sexpositivität und klarem Consent (gegenseitiger Einwilligung bei sexuellen Handlungen) erzählt werden. Lieben wir. Das Buch ist ganz schön spicy - gleich nach 20 Seiten gibt es die erste explizite Sexszene – aber meilenweit entfernt von plumpen Erzählungen wie Fifty Shades Of Grey oder Konsorten.
Erschienen bei Lyx
Sarah Leuchtenberg empfiehlt: "Bleibefreiheit" von Eva von Redecker
„Am freiesten bin ich, wenn ich allein auf dem Mars bin.“ Wenn wir unser aktuelles Verständnis von Freiheit konsequent zu Ende denken, ist das wohl ein passendes Bild. Völlige Freiheit bedeutet für uns absolute Reisefreiheit und von nichts und niemandem eingeschränkt zu sein. Doch ist diese Vorstellung von Freiheit überhaupt vereinbar mit der Realität? Ohne Mitmenschen und ohne Ökosystem können wir faktisch nicht überleben. „Hängt unsere Freiheit nicht vom Fortbestand der lebendigen Welt ab?“ fragt Eva von Redecker in Ihrem Buch "Bleibefreiheit" und schlägt in ihren Überlegungen einen neuen, die gegenwärtigen Krisen mitdenkenden Freiheitsbegriff vor: Die Freiheit bleiben zu können.
Erschienen bei S. Fischer
Valerie Trebeljahr empfiehlt: "Morgen, morgen und wieder morgen" von Gabrielle Zevin
„Morgen, morgen und wieder morgen“ hat ein hohes Suchtpotential. Gerade fertig, denkt man sich: Das brauche ich sofort nochmal – und merkt dann, dass Gabrielle Zevins Roman ganz schön einzigartig ist. Unglaublich poppig und gleichzeitig von der Geschichte her komplex und kunstvoll. Es geht um die Freundschaft von Sadie und Sam, die sich als Kinder begegnen und später zusammen eines der erfolgreichsten Computerspiele ihrer Zeit erschaffen. Um zwei Außenseiter, die ihre eigenen Welten erschaffen. Die englische Ausgabe hat 2022 abgeräumt, was man so kriegen kann: "Book of the year" bei Time Magazine, Amazon, Apple.
Erschienen bei Eichborn
Ferdinand Meyen empfiehlt: "Der Osten: Eine Westdeutsche Erfindung" von Dirk Oschmann
Auf den ersten Blick fragt man sich, warum der Germanistik-Professor Dirk Oschmann wieder mit diesem Thema um die Ecke kommt, fast 35 Jahre nach der Wende. Umso überraschender, wie viele der Argumente man noch nicht gehört hat. Ein Buch, das dabei hilft, den Osten besser zu verstehen und das anhand von ökonomischen Fakten aufzeigt, wie mitten in Deutschland eine wirtschaftliche Peripherie entstanden ist, die gleiche Arbeit viel schlechter bezahlt, systematisch vernachlässigt und so zum Nährboden für Rechtspopulismus geworden ist. Polarisierende Thesen, die man nicht alle teilen muss, aber die zum Umdenken anregen und dabei helfen, den Osten zu verstehen.
Erschienen bei Ullstein
Johanna Hintermeier empfiehlt: "Aus ihrer Sicht" von Alba de Céspedes
Ein junges Mädchen wächst im Angesicht des zweiten Weltkrieges in Rom auf, ihre musikalisch-begnadete Mutter nimmt sich aus Liebeskummer das Leben. Früh erfährt Alessandra Unterstützung von Frauen und muss doch ihr Leben nach Männern, allen voran nach ihrem Vater ausrichten. Angetrieben durch ihre Suche nach Glück und Bildung, kämpft Alessandra für Selbstständigkeit und Gleichberechtigung. Ein Coming-of-Age Roman aus dem Jahr 1949. Alba de Céspedes, die in Italien und Kuba als Journalistin und Aktivistin Faschisten Widerstand leistete, gilt es in Deutschland noch als feministische Autorin zu entdecken.
Erschienen bei Suhrkamp
Alba Wilczek empfiehlt: "Die Anomalie" von Herve Le Teiller
Fakten auf den Tisch: Kein Buch hat mich je so gefesselt wie dieses. Die Idee für den Plot ist atemberaubend. So einfach, und gleichzeitig so kompliziert, dass ich manche Seiten mehrfach lesen musste. Und am Ende stellt man alles in Frage: die Welt, die eigene Existenz, und das komplette Universum. Eigentlich möchte ich auch gar nicht viel mehr dazu sagen, bitte fangt einfach an zu lesen und lasst euch überraschen – ohne Klappentext!
Erschienen bei Rowohlt
Paula Lochte empfiehlt: "Blue Skies" von T. C. Boyle
Für Fans von „Don't Look Up“. Verwandelt die Klimakrise so unterhaltsam wie böse in große Literatur. Frei nach dem Motto: Wir werden die selbstgemachte Katastrophe auch dann noch verdrängen, wenn sie uns mit Giftzähnen ins Gesicht beißt.
Erschienen bei Hanser
Barbara Wossagk empfiehlt: "Monde vor der Landung" von Clemens J. Setz:
„Monde vor der Landung“ ist ein Buch über die Frage, wer hier eigentlich am verrücktesten ist. Der unbeirrbare, in fernen Sphären schwebende Hohlwelt-Gläubige oder vielleicht doch die sehr realen Nazis? Mit dem typischen Setz-Sog.
Erschienen bei Suhrkamp