Buch über "Row Zero" Warum Machtmissbrauch in der Musikbranche weit über Rammstein hinausgeht
Vor einem Jahr sind die Vorwürfe gegen Rammstein und Sänger Till Lindemann aufgekommen. Für "Row Zero" haben Daniel Drepper und Lena Kampf mit mehr als 200 Menschen aus der Branche gesprochen und zeigen mit dem Buch, wie gewaltig das Problem eigentlich ist.
Wie Rotweinflecken, die sich langsam auf einem weißen Hemd ausbreiten. So beschreibt Lena Kampf ihre Fanseele. Lange Zeit habe sie Michael Jackson vergöttert. Doch nach und nach kam mehr und mehr ans Licht. Anfangs hat Lena Kampf noch versucht, die Flecken wegzuwischen. Aber die vielen Geschichten von mutmaßlichem Kindesmissbrauch habe sie irgendwann nicht mehr ignorieren können. Um das Fansein, seine fatalen Folgen und den Sexismus in der Musikbranche geht es im neuen Buch "Row Zero".
"Row Zero" zeigt: Rammstein war nur die Spitze des Eisbergs
Die Row Zero, die Reihe Null, ist bekannt geworden durch die Debatte um Rammsteinsänger Till Lindemann und sein mutmaßliches Groupie-Rekrutierungssystem. Die Journalisten Daniel Drepper und Lena Kampf waren Teil eines Rechercheverbunds, haben damals mutmaßliche Betroffene interviewt. Ihr neues Buch "Row Zero" zeigt aber vor allem: Die Rammstein-Vorwürfe sind nur ein kleiner Fleck auf einem Hemd, das in Wahrheit rotweindurchtränkt ist.
"Das sogenannte Girl-Scouting, dass eben Fans hinter die Bühne gebracht werden für Sex mit Stars für Partys, das ist relativ normal. Das sieht man auch genreunabhängig fast überall."
Autorin Lena Kampf
Auch Fans von Iggy Pop, Led Zeppelin, Deutschrappern wie Gzuz, Samra, Bushido oder auch von Robbie Williams müssen beim Lesen von "Row Zero" stark sein. Denn es geht um das gesamte Musikbusiness. Das Resümee im Buch: "Fast alle Frauen, die schon länger in der Branche tätig sind und mit uns über ihre Erfahrungen sprechen, erzählen uns, dass sie irgendwann eine Entscheidung treffen mussten: Entweder ich verlasse die Musikindustrie, oder ich lege mir Strategien zurecht, wie ich mit übergriffigen Männern zurechtkomme."
Das neue Album-Cover der Band Scooter aus dem März 2024 gibt im Grunde die Richtung vor, ein halbgeöffnete Frauenjeans an der ein Backstage-Pass von Scooter mit dem Albumtitel hängt: "Open Your Mind and Your Trousers".
Das Musikbusiness: eine "Menschenschluckerindustrie"?
Das Musikbusiness, das "Row Zero" beschreibt, ist eine Welt, in der Frauen häufig nur Sexobjekte sind. Nicht nur für Stars, sondern auch für die männlichen Vorgesetzten. Lena Kampf und Daniel Drepper decken ein Buddy-System auf. Männer, die sich gegenseitig schützen und decken, und die den Stars fast alles durchgehen lassen, weil sie Profit bringen.
Mit mehr als 200 Menschen aus dem Business haben die Buchautoren gesprochen. Eine Protagonistin in "Row Zero" beschreibt das Musikgeschäft als eine "Menschenschluckerindustrie". Rapper Bushido zum Beispiel, soll Backstagepässe auf seinen Konzerten wohl "Fickbändchen" genannt haben.
"Row Zero" auch Kritik am übertriebenen Fantum
Auf der anderen Seite ist "Row Zero" aber auch eine Kritik am übertriebenen Fantum. Denn es geht auch um die Folgen der Idolisierung. Des Verliebtseins in einen Sänger, der Texte schreibt, die einem scheinbar aus der Seele sprechen. Eine Passage im Buch zeigt, was das wiederum mit den Stars macht: "'Die Weiber waren so heiß auf uns, dass ich es am Anfang gar nicht glauben konnte', schreibt etwa Patrick Losensky alias Fler in seiner Autobiografie über seine erste Tour mit den Rappern B-Tight, Sido und Bushido."
Wie ihm Frauen täglich auf Insta schreiben, dass sie ihn heiraten wollen und was nach dem Gig passieren kann – davon singt auch Shootingstar Apache207 in seinem Song "Beifahrersitz": "Telefone werden eingesammelt nach meinem Konzert, denn ich steh nicht so auf No Risk No Fun. Was im Backstage so passiert ist, bleibt auch im Backstage, denn manchmal wird es einfach nur zu brutal."
Dass sie so angehimmelt werden, schmälert die Verantwortung der Musikstars aber nicht. Im Gegenteil: Wer "Row Zero" liest, versteht das Machtgefälle zwischen Musikern und Fans, die ihre Stars so lieben, dass sie viel mit sich machen lassen. Zu viel. Und man schüttelt den Kopf darüber, dass die Stars das mutmaßlich ausnutzen. Und ausblenden, dass auch mit "Sex, Drugs and Rock 'n' Roll" Verantwortung einhergeht.
Können Songtexte zur Beweisführung herangezogen werden?
Eine Schwäche des Buchs ist jedoch, dass zur Beweisführung immer wieder Songtexte herangezogen werden. Verlockend, weil manches passt. Aber in Bezug auf Rammstein könnte man so fast alles unterstellen: Till Lindemann könnte nicht nur Sexualstraftäter sein, sondern auch Mörder, Leichenschänder, pädophiler Priester, Kannibale… oder gar nicht auf Frauen stehen.
Ziel ihres Buchs sei es allerdings auch nicht, die Kunstfreiheit anzugreifen, sagt Buchautorin Lena Kampf. "Die Recherche hat schon gezeigt, dass man nicht automatisch von sexistischen Texten auf sexistisches Verhalten schließen kann, auch wenn sich bei Lindemann natürlich Fragen stellen. Aber jemand, der Kuschelrock macht, ist eben auch nicht davor gefeit, den Verheißungen des Ruhms zu erliegen."
Und diese Verheißungen können sexistische Strukturen errichten, das ist die wichtigste Lektion aus "Row Zero". Was übrigens nicht nur für Rammsteinfans gilt, sondern auch für Swifties. Man kann die Musik lieben. Aber es wären alle besser dran, ihre Begeisterung nicht auf die Personen zu projizieren, die diese Kunst geschaffen haben.
Das Buch "Row Zero" ist im Eichborn Verlag erschienen und kostet 22 Euro.