Hengameh Yaghoobifarah Warum der Roman "Schwindel" ausgleichende Gerechtigkeit ins Patriarchat der Literaturwelt bringt
Hengameh Yaghoobifarahs Roman "Schwindel" ist ein queeres Kaleidoskop. Witzig, hot, entertainy. Und ein empowernder safe space in einer Zeit, wo Faschismus und Rassismus in die Mitte rücken - wenn man Hengamehs Sprache mächtig ist.
Ein Abend in einem Hochhaus in einer namenlosen Stadt. Eigentlich hat Ava gerade ein Date mit Robin. Doch plötzlich stehen zwei weitere Liebhaber*innen vor ihrer Wohnungstür: Delia und Silvia. Ava flieht aufs Dach – und die drei hinterher. Zunächst fürchten sie, Ava hätte sich runtergestürzt. "Ich hab’ niemandem irgendwas vorgetäuscht", ruft Ava schließlich. "Keinen Suizid, keine Monogamie, keine ewige Liebe. Ich hab euch allen von Anfang an gesagt, woran ihr seid. Komplette Transparenz. Was wollt ihr noch von mir?" "Ganz ehrlich, einfach erst mal reingehen", seufzt Delia. "Na los."
Doch nichts da, "los". Die Dachtür ist zugefallen. Die vier sind ausgesperrt. Von da an erleben wir ein Kammerspiel. "Ich hatte einfach Lust auf die Idee, vier Leute auf ein Dach einzusperren", sagt Hengameh Yaghoobifarah. "Und da war aber auch klar, dass es viel um Queerness und Begehren geht." Yaghoobifarahs größte Herausforderung: multiperspektivisch schreiben.
Ava: die Nicht-Betrügerin
Da ist natürlich Ava, um die sich alles dreht, weil sie mit allen dreien eine Liaison hat. "Klar hätte man hier und da ein bisschen besser kommunizieren können, aber Gott, Ava war doch keine Betrügerin. Vielleicht war es nicht die beste Idee, über die Liebhaber*innen vor den jeweils anderen abzulästern. Okay, ja, sorry. Kommt nicht mehr vor. Können wir jetzt bitte alle chillen?"
Robin: bi und in einer Heterobeziehung
Dann gibt es Robin: Sie ist bi, sieht aus wie "die menschliche version des instagram-elfen-filters" und lebt in einer offenen Heterobeziehung, für die die anderen sie aufziehen: "Ist es dir hier oben zu lesbisch?"
Delia: Nicht-binär, ständig high
Außerdem ist da Delia: nicht-binär, ständig high und auffällig durch die konsequente Kleinschreibung. "delia kann sehr gut nachvollziehen, was ava an den beiden findet. beide hot. beide schlagfertig. beide eine wucht und gut gekleidet, jede auf ihre art. und delia? ein absoluter loser. nicht wettbewerbsfähig."
Silvia: die ältere Lesbe
Und schließlich ist da Silvia: eine ältere Lesbe. "In ihrer Generation sind viele so verbittert und selbstgerecht, dass es keinen Spaß mehr macht, mit ihnen Zeit zu verbringen. Sie kommen nicht darauf klar, als einst wichtige Figuren einer Bewegung an Relevanz verloren zu haben.", schreibt Yaghoobifarah in Silvias Stimme "Ava ist ihre Erinnerung daran, dass sie lebt – und wie!"
Kammerspiel mit Plot und Cliffhangern
Obwohl "Schwindel", der zweite Roman von Yaghoobifarah, als Kammerspiel angelegt ist, ist die Geschichte doch plotreich: die vier suchen Ausgänge, müssen Essen, Trinken und ihre Zweifel teilen. Und ab und zu tut sich was auf dem Dach. "Ey", wispert Delia plötzlich. "Hört ihr das auch?"
Yaghoobifarah arbeitet mit Cliffhangern, vor allem auch vor den Rückblicken, in denen wir mehr über die Figuren erfahren: freiwillige Outings, unfreiwillige Outings, spontaner Sex im Hammam, spontaner Sex in der Arztpraxis-Toilette. Sex gibt es reichlich, die Protagonist*innen schwitzen, riechen und schmecken nach Pussy. Und fast immer entsteht ein asymmetrisches Begehren, das vielen Lesenden schmerzlich bekannt sein dürfte. Zum Beispiel wenn Ava auf ein Date mit Robin hofft, aber merkt, dass sie nur gerufen wurde zum Kühlschrankschleppen. Urgh.
Wenn nicht alle damit relaten können
Yaghoobifarah hat einen ganz eigenen Sound. Schon im Debütroman "Ministerium der Träume" haben einige Leser*innen mit der Szenesprache nicht relaten können, erzählte Yaghoobifarah mal. In "Schwindel" dürfte manchen noch schwindeliger werden. "Sie mussten an der Matrix herumpfuschen, einen Glitch hineinreißen. Und zum krönenden Abschluss nun das Jüngste Gericht role-playen." Yaghoobifarah schreibt für Menschen, die vertraut sind mit der Sprache des Queerfeminismus, der Drogenkultur und der Therapie-Sessions ("Dissoziiieren", "Procession", "TERF", "MILF", "Chemsex", "clitmatized", "Poppers", "Jockstraps").
Es ist wie in einer anderen Sprache zu lesen und es fehlen einem manche Wörter: In der Regel ergibt sich die Übersetzung aus dem Kontext ("ich kann uns allen kool-aid einschenken. wär doch ein lustiges prop, wenn wir gefunden werden."). "Schwindel" ist ein urbanes Glossar in Romanform. Anglizismen sind da noch das wenigste. ("Lockere Lovers können safe mal miteinander verreisen. Das hat nichts mit Feelings zu tun.")
Von Hengameh Yaghoobifarahs Podcast "Auf eine Tüte" und von Auftritten ist klar: Yaghoobifarah spricht so. "Tatsächlich habe ich in dem Buch weniger Anglizismen benutzt, als ich selber benutzen würde. Und dadurch, dass es aus vier verschiedenen Perspektiven geschrieben ist, unterscheiden sich die vier Figuren auch in ihrer Sprache. Silvia, die ja wesentlich älter ist als die anderen drei Figuren, benutzt eigentlich so gut wie keine Anglizismen, eher so Boomer-Anglizismen, die sich so eingebürgert haben, wie 'Come on' oder sowas." Delias Stimme hingegen ist eher assoziativ und bei ihr sind die Buchstaben schon mal spiralförmig auf der Seite angeordnet, wie bei Lyrik. "es gilt die sprache zu demolieren, das geschlecht zu demolieren, die mauer der gefängnisse zu demolieren, alles zu zerlegen, was uns zu gefangenen macht."
Und das Schönste: "Schwindel" ist meines Wissens der erste Roman, der bei Sexszenen vom "Circludieren" spricht, das Wort hat die Berliner Künstlerin Bini Adamczak in den letzten Jahren populär gemacht: Circludieren ist das Gegenteil von Penetrieren. Hier dringt niemand ein. Hier umschließt eine Vulva, ein After, ein Mund aktiv. Yaghoobifarah sprengt Rollenmuster, der Schwindel wird zum Genuss.
Safe space in der bedrängenden Gegenwart
"Schwindel" ist ein safe space in einer Zeit, wo Gewalt gegen Queere steigt und rechte Bewegungen und Rassismus in die Mitte rücken. Es scheint fast, als hätte Yaghoobifarah noch Hoffnung. "Ja, nicht wirklich, ehrlich gesagt", sagt Yaghoobifarah. "Aber es gibt Momente, in denen man diese schlimmen Dinge auf jeden Fall ausblenden kann und ich glaube, es braucht immer auch diese Momente von Genuss, Schönheit und Freude. Um auch Kräfte sammeln zu können. Um das, was schrecklich ist, verändern zu können und dagegen ankämpfen zu können."
"Schwindel" ist witzig, entertainy und bei aller Szenesprache kein Closed Shop für Eingeweihte. Delia, Silvia, Ava und Robin machen Fehler und hauen sich bekifft Vorurteile um die Ohren.
Wie schon bei Mithu Sanyals Roman "Identitti" oder Bernardine Evaristos "Frau, Mädchen, etc." spielen nur Frauen und nicht-binäre Menschen eine tragende Rolle. Cis-Männer glänzen durch Abwesenheit. Danke. "Schwindel" ist ausgleichende Gerechtigkeit im Patriarchat der Literatur.
"Schwindel" von Hengameh Yaghoobifarah ist im Blumenbar-Verlag erschienen und kostet 23 Euro.