Buchtipps Jüdische Autorinnen der Gegenwart
Im Rahmen des Themenjahres "1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland" hat sich Buchhändlerin Sabine Abel auf die Suche nach empfehlenswerten Büchern jüdischer Autorinnen gemacht. Sie stellt Ihnen vier Bücher vor, die Sie unbedingt lesen sollten.
Lena Gorelik: Die Listensammlerin
Sabine Abel: "Die 1981 in Leningrad geborene (und 1992 nach Deutschland gekommene) Lena Gorelik hat mit ihrem Roman 'Die Listensammlerin' eine bezaubernde, lustige und zugleich tiefgründige Geschichte aufgeschrieben.
Sofia und Grischa sind die beiden Hauptfiguren des Buches. Sofias Wurzeln befinden sich in der ehemaligen Sowjetunion. Jetzt lebt sie mit ihrer Familie in München, wo sie als Schriftstellerin ihr Geld verdient. Im Moment hat sie allerdings überhaupt keine Ideen für ein neues Buch, der Alltag droht sie aufzufressen.
Auf der einen Seite ist da ihre kleine Tochter, die operiert werden muss, auf der anderen Seite ihre demente Oma, die im Pflegeheim lebt.
Wann immer das Leben zu kompliziert zu werden droht, greift Sophia zu einem ganz eigenen Hilfsmittel: Sie schreibt Listen. In solchen Krisen entstehen Listen, auf denen sie festhält, welche Sätze sie nie im Leben sagen will, oder welche Tomatengerichte sie ablehnt. Sobald eine Liste fertig ist, sind ihre Ängste fast verschwunden.
Als sie sich eines Tages daran macht, den Hausstand der Großmutter aufzulösen, entdeckt Sophia zu ihrer großen Überraschung eine kleine Kiste mit lauter vergilbten Zetteln, auf denen jemand in kyrillischer Schrift genau wie sie Listen verfasst hat. Es handelt sich um ihren Onkel Grischa, den Bruder ihrer Mutter. Was es mit Grischas Lebensgeschichte, seinen Listen und seinen Ängsten auf sich hat, entschlüsselt Sophia Stück für Stück mit Hilfe der kleinen Holzkiste. Bald wird Sophia klar, dass vieles, was sie bisher über ihre russische Familie wusste, so nicht stimmt. Vielleicht eignet sich diese Geschichte als Stoff für ihren neuen Roman?
Mit der 'Listensammlerin' erzählt Lena Gorelik die Geschichte einer jungen Frau zwischen Mutterschaft und Beruf, zwischen alten Familiengeheimnissen und dem neuen Leben in Deutschland. Dabei zeigt sie ihren Sinn für feinen Humor und eine große Ernsthaftigkeit, wo sie geboten ist."
Dana von Suffrin: Otto
Sabine Abel: "Otto, die Hauptfigur in Dana von Suffrins erstem Roman ist ein alter Mann. Zu Beginn der Geschichte liegt er in einem Münchner Klinikum und kämpft um sein Leben. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Ottos älterer Tochter Timna. Timna und Babi sind Ottos Töchter und sein einziger Halt im Leben. Doch diese Tatsache hält den alten Mann nicht davon ab, die beiden zu gängeln und zu schikanieren. Dauernd erklärt er ihnen, sie würden sich nicht oft genug und natürlich auch nicht gut genug um ihren alten Vater kümmern. Schließlich seien sie ihm das schuldig. Die beiden jungen Frauen finden ihren ganz eigenen Weg, mit ihrem Vater umzugehen.
Doch es gibt noch ein weiteres großes Thema in diesem Buch und das ist Ottos äußerst bewegte Lebensgeschichte. Geboren in Siebenbürgen Rumänien hat Ottos jüdische Familie irgendwie die deutsche Besatzung in der Nazizeit überstanden. Als dann die Kommunisten an die Macht kommen und nicht zimperlich mit der jüdischen Bevölkerung umgehen, ziehen sie gemeinsam nach Israel. Von dort macht sich Otto auf nach Deutschland.
Deswegen bricht er fast mit seiner Familie, die kein Verständnis dafür hat, dass ihr Sohn ausgerechnet in das schlimmste Feindesland für Juden auswandern will. In Deutschland bringt Otto es über viele Umwege und viele schräge und manchmal absurde Episoden immerhin zum Besitz eines Reihenhauses in Trudering - sein ganzer Stolz!
Dana von Suffrin beschreibt mit Otto einen alten Mann, der oft ein echtes Ekel ist. Trotzdem empfindet man beim Lesen auch immer so etwas wie Sympathie für ihn. Verwoben mit den oft tragisch-komischen Episoden aus seinem Leben und dem seiner Töchter, ist Ottos Geschichte gleichzeitig eine Geschichte übers Altwerden, übers Abschiednehmen und eine über die komplexe Beziehung von Vätern und ihren Töchtern. Zwischen Lachen und traurig sein ist alles dabei."
Angelika Schrobsdorff: Du bist nicht so wie andre Mütter. Die Geschichte einer leidenschaftlichen Frau
Sabine Abel: "In diesem Buch erzählt Angelika Schrobsdorff vom Leben ihrer jüdischen Mutter, einer Frau, die sich nie an Konventionen gehalten hat. Else Kirschner wird in eine wohlhabende Berliner Kaufmannsfamilie hineingeboren. Sie wächst, zusammen mit ihrem Bruder, wohlbehütet auf. Die Familie ist zwar jüdisch und pflegt auch die jüdischen Bräuche und Feste, trotzdem ist ein Großteil der Freunde und Geschäftspartner nicht Teil der jüdischen Gemeinde Berlins.
Else fühlt sich zum Christentum hingezogen. Doch noch mehr fühlt sie sich zu Fritz, einem jungen Künstler, hingezogen. Mit ihm brennt sie durch und bekommt zwei Kinder. Sie feiern wilde Partys im Berlin der Weimarer Republik und ihr Zuhause ist Treffpunkt der Berliner Kunstszene. Als Else von einem anderen Mann schwanger wird, trennt sich Fritz von ihr. Else muss alleine für ihre drei Kinder sorgen. Als klar wird, dass die Nationalsozialisten die Macht ergreifen werden, flieht Else mit den Kindern nach Bulgarien. Nach vielen Jahren kehren sie zurück nach Berlin.
Der Roman begleitet die Familie auf ihrer Flucht, zeichnet detailgetreu nach, was geschehen ist und wie es den einzelnen Familienmitgliedern dabei ergangen ist. Schrobsdorff erzählt auch von vielen, für sie als Kind verstörenden, Ereignissen in Bulgarien und von der ebenfalls verstörenden Rückkehr in ein Berlin der Nachkriegszeit.
Für mich ist dieser Roman viel mehr als eine Erzählung, er ist ein zeitgeschichtliches Dokument. In ihm verarbeitet Angelika Schrobsdorff persönliche Erinnerungen, aber auch die Erinnerungen von Zeitgenossen und Briefe ihrer Mutter. Man erfährt beim Lesen so vieles, das man eigentlich nur aus den Geschichtsbüchern kennt. Hier bekommen die Ereignisse einen ganz persönlichen Touch."
Mirjam Pressler: Nathan und seine Kinder (Jugendbuch)
Sabine Abel: "Dieser Roman basiert auf dem Drama 'Nathan der Weise' von Gotthold Ephraim Lessing aus dem Jahr 1779. Im Mittelpunkt des Dramas und dieses Romans steht die Frage nach der einzig wahren Religion.
Der Jude Nathan lebt Ende des 12. Jahrhunderts als reicher Händler in Jerusalem. Zu seinem Haushalt gehört, neben zahlreichen Bediensteten, auch seine Adoptivtochter Recha. Als Nathan eines Tages auf Geschäftsreisen ist, fängt es in seinem Haus an zu brennen. Seine Tochter Recha fällt beinahe den Flammen zum Opfer, doch ein zufällig vorbeikommender Tempelritter rettet die junge Frau. Es ist die Zeit der Kreuzzüge, gerade fiel die Heilige Stadt in die Hände des Sultans. Der Tempelritter ist einer der Wenigen, die vom Sultan am Leben gelassen wurden, damit er in seiner Heimat vom Schicksal seiner Gefährten berichten kann.
Als Nathan zuhause ankommt, ist der junge Mann bereits wieder weg. Einige Tage später treffen sie sich zufällig auf dem Marktplatz und Nathan kann den Ritter überreden, zu einem Essen zu ihm zu kommen. Nathan, der Jude, und der Christ kommen sich freundschaftlich näher. Kurz darauf wird Nathan zum Sultan gerufen, dem diese ungewöhnliche Freundschaft zu Ohren gekommen ist. Der Sultan stellt Nathan die berühmte Frage nach der einzig wahren Religion: Judentum, Christentum oder Islam? Nathan weiß, dass es bei der Antwort um sein Leben geht und antwortet mit der berühmten Ringparabel.
Mirjam Pressler hat mit ihrem Jugendroman den etwas starren Figuren aus Lessings Drama Leben und Emotionen eingehaucht. Sie verwandelt den berühmten Stoff in einen spannenden Roman. Nichts desto trotz erklärt sie die komplexen Zusammenhänge und Glaubensfragen detailliert und eindrücklich. Dieser Roman ist nicht nur etwas für junge Leserinnen und Leser, sondern für alle, die sich mit den unterschiedlichen Religionen und Kulturen beschäftigen und wissen wollen, wie ein gutes, friedliches Miteinander funktionieren könnte."
Viel Freude beim Lesen wünschen Sabine Abel und "Wir in Bayern"!